Das katholische einstige Bauerndorf Haret Hreik, in dem Michel Aoun 1933 geboren wurde, ist heute ein städtischer Vorort von Beirut – und eine Hochburg der schiitischen Hisbollah. Autos stauen sich vor einem Checkpoint: Journalistinnen und Journalisten dürfen nur mit Bewilligung hineinfahren.
Überall hängen Plakate des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah und seiner gefallenen Kämpfer, auch iranische Geistliche und Generäle blicken ernst von Plakaten an den Hochhäusern. Dazwischen wirkt die Kirche, die während Aouns Kindheit gebaut wurde, etwas verloren. Die Uhr auf dem Kirchenturm steht still.
Die Reporterin muss sich als Erstes beim Hisbollah-Medienbüro melden. Dort bekommt sie einen Begleiter, oder eher: einen Aufpasser. Weil der junge Mann keine Ahnung hat, wo sich Michel Aouns Geburtshaus befindet, fragen wir Leute auf der Strasse. Einer verweist uns an eine Christin, die in der Nähe der Kirche lebt.
Ihr Haus ist erreichbar durch einen Innenhof, der mit einem elektrischen Eisentor versperrt ist. Der Ort muss der Hisbollah wichtig sein. Die beiden Wächter fragen ständig, ob wir auch ja keine Fotos machten.
«Wir lieben den General!»
Einer ruft die Christin: Sie heisst Iguette Choueifaty, ist gut 70 Jahre alt. Sie hat ein Gesicht, das von der Leidensgeschichte ihres Landes gezeichnet ist. Choueifaty trägt ein ärmelloses Sommerkleid, atmet schwer, auch wegen der Hitze. Trotzdem lässt uns der Aufpasser nicht mit ihr irgendwo hineingehen. Wir reden deshalb unter einem Baum am Strassenrand. Der Name Michel Aoun bringt die Frau ins Schwärmen.
«Wir lieben den General! Meine Geschwister und ich sind nach dem Tod meiner Mutter im Haus seiner Mutter aufgewachsen», sagt Iguette Choueifaty. «Schon als 22-Jähriger trug er eine schöne blaue Offiziersuniform.» Sie fährt fort: «Er stieg auf: von einem Posten zum nächsten.» Offizier, jüngster Kommandant der libanesischen Armee, Premier einer Militärregierung. «Er ist einfach der schönste General!»
Pakt mit der Hisbollah für Präsidentenamt?
Negatives erwähnt sie nicht: Michel Aouns Niederlage gegen die syrische Besatzungsmacht 1989, sein 15-jähriges Exil in Frankreich – und 2006: Aouns Pakt mit der Hisbollah. Ein Pakt, der für seine Geburtsstadt Haret Hreik schwere Folgen hatte: Aoun unterstützte die Hisbollah im Krieg gegen Israel. Haret Hreik, damals Hauptquartier der Hisbollah, wurde von Israel besonders heftig bombardiert.
Aber dank seinem Pakt mit der Hisbollah erreichte Aoun 2016 auch sein Ziel, Präsident zu werden. Vorwürfe, wonach Michel Aoun seinem persönlichen Ehrgeiz alles untergeordnet habe, auch das Wohl des libanesischen Volkes, lässt Iguette Choueifaty trotzdem nicht gelten, obwohl sie seit zwei Tagen nicht einmal Brot kaufen konnte. «Heute kostet ein Pack Fladenbrot 30'000 Pfund. Aber meinst du, Michel Aoun sei schuld, dass die Armen kein Brot kaufen können?»
«Wenn Präsident Aoun weg ist, werden sie sich zerfleischen»
Iguette Choueifaty wettert über die Diebe in der Regierung. Sie verflucht Aouns Kritiker: «Wenn Präsident Aoun weg ist, werden sie sich zerfleischen – wart’s ab.»
Wir bringen Iguette Choueifaty zurück zu ihrem Haus hinter dem Eisentor, das die Hisbollah bewacht. Bevor sie dahinter verschwindet, sagt sie noch, wo das Geburtshaus Michel Aouns einst stand: dort, wo sich heute der Hisbollah-Fernsehsender Al-Manar befindet. Es ist ein unspektakuläres Gebäude, das während des Israel-Libanon-Krieges 2006 mehrfach von israelischen Raketen getroffen wurde.
Das Bild der Libanesin, die auf Schritt und Tritt von der Hisbollah überwacht wird, sagt mehr, als Iguette Choueifaty sagen konnte oder wollte.
Auch Edy Maalouf verteidigt den Präsidenten Michel Aoun. Maalouf ist Katholike und ein ehemaliger Parlamentarier der Freien Patriotischen Bewegung, der Partei Aouns. Sein Onkel war mit Aoun in der Militärschule – Maalouf selbst zog aus Bewunderung für General Aoun mit 16 in den Bürgerkrieg. Später arbeitete er eng mit ihm zusammen. «Ich weiss, wie der General ist und denkt. Alles, was jetzt passiert, hat er kommen sehen», sagt Edy Maalouf.
«Den finanziellen Kollaps, den wir heute erleben, hat Aoun schon 1998 vorausgesagt. Er war auch gegen das Abkommen von Taif. Er wusste, dass eine Verfassung, welche die Macht unter den konfessionellen Parteien aufteilt, für Libanon nicht gut war», sagt Maalouf. Dann sagten das plötzlich viele. «Aber statt Aoun recht zu geben, machten sie ihn für alles verantwortlich. Oder bezichtigten ihn des Gesinnungswandels – weil er aus ehemaligen Feinden Freunde gemacht hat.»
«Die Menschen wünschen sich den General von früher»
«Fragt man Michel Aoun, sagt er: Für einen General seien die Fronten klar. Als Politiker hingegen müsse er auf alle Libanesen zugehen, auch auf die Hisbollah», sagt Edy Maalouf.
Viele Leute wünschten sich den General aus dem Bürgerkrieg zurück; weil sie die Manöver des Politikers Aoun nicht verstünden, erklärt Maalouf weiter.
«Ich bin bis heute überzeugt von General Aouns Ideen. Die Menschen haben jetzt eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann, dass wir etwas verändern müssen», sagt der christliche Politiker Edy Maalouf. «Hoffentlich schaffen wir das – diesmal ohne 15-jährigen Bürgerkrieg.»