Übersehen konnte man ihn noch nie. Übergehen allerdings schon. Mit seinen 1.98 Metern ist Friedrich Merz der (fast) alle überragende Mann im Deutschen Bundestag. Es sollte aber bis weit ins Pensionsalter dauern, bis er am Höhepunkt einer langen und steinigen Politkarriere angelangt ist: nämlich dem Posten als CDU-Chef und Kanzlerkandidat der Union.
Dabei liest sich Merz’ Biografie, als würde man ChatGPT fragen, wie man Kanzler wird. Der Vater evangelisch, die Mutter katholisch verkörpert er die Christlich-Demokratische Union quasi per Geburt. Hineingeboren wird «Fritz» 1955 in eine konservative Juristenfamilie. Flausen im Kopf haben die anderen: Abitur, Wehrdienst bei der Artillerietruppe der Bundeswehr, Studium der Rechtswissenschaft, Richter am Landgericht Saarbrücken. Läuft.
Ausgemerzt
Die politische Ochsentour zieht er durch wie andere die Schuhe schnüren: Vorsitzender der Jungen Union (1980), Wahl ins Europäische Parlament (1989), Wahl in den Bundestag (1994) und schliesslich Chef der Bundestagsfraktion der Union und Oppositionsführer im Parlament (2000). «Leistung muss sich wieder lohnen», lautet das Mantra der Union im aktuellen Wahlkampf. Friedrich Merz könnte es sich auf die Brust tätowieren.
2002 kommt es zum Machtkampf mit der aufstrebenden Angela Merkel. Die kinderlose Frau aus Ostdeutschland passt so gar nicht ins übliche CDU-Raster – und erwischt auch Merz auf dem falschen Fuss. Die «Physikerin der Macht» beansprucht neben dem Präsidium auch Merz’ Fraktionsvorsitz für sich.
Blackrock statt Bundestag
Merz, mittlerweile 45-jährig und nicht bereit, zurück ins zweite Glied zu rücken, geht in die Kampfwahl. Entgegen dem Rat seines Ziehvaters, der CDU-Legende Wolfgang Schäuble.
Merkel gewinnt die Ausmarchung und wird zur unumstrittenen Führungsfigur der CDU. Merz, gedemütigt und seiner Ambitionen beraubt, geht in die Privatwirtschaft. Erfolgreich ist er auch dort, doch sein politischer Stern verblasst.
Merz sitzt auch im Aufsichtsrat von Blackrock. Der weltgrösste Vermögensverwalter jongliert auf den Finanzmärkten mit Milliardenbeträgen. Merz’ Engagement ist lukrativ, bringt ihm aber auch Kritik ein. Als er sich in einem Interview in der «gehobenen Mittelschicht» verortet, kommen Hohn und Spott dazu.
«Cancel» statt Kanzler?
Nach 16 Jahren geht die Merkel-Ära schliesslich zu Ende. Merz wagt das politische Comeback. Der Mann, der in der CDU der 1980er-Jahre sozialisiert wurde, findet sich in einer anderen Welt wieder – und steigt trittsicher in jedes Fettnäpfchen.
Merz prallt an der neuen Realität ab: Das «Sagen, was man denkt» ist dem «Aufpassen, was man sagt» gewichen. Merz wird als aus der Zeit gefallener «Kohlianer» verspottet. Die Dämonen der Vergangenheit kehren zurück: Wieder wird Merz’ von der parteiinternen Konkurrenz ausgestochen – er droht zur tragischen Figur der Partei zu werden.
«Mehr Merz wagen!» – im dritten Anlauf
2018 unterliegt Merz der Merkel-Gefährtin Annegret Kramp-Karrenbauer im Rennen um den Vorsitz der CDU – und handelt sich Kritik aus den eigenen Reihen ein, weil er das individuelle Grundrecht auf Asyl einschränken will. 2021 steht ihm Armin Laschet vor der Sonne.
«Mehr Merz wagen!», fordert das konservative Lager innerhalb der Union nach der Wahlniederlage – und befördert Merz an die Spitze der Partei. «Ich habe im Stillen ‹Wow› gesagt, Triumphgesänge sind mir fremd», erklärt Merz, als ihn die Mehrheit der 400'000 CDU-Mitglieder auf den Thron hebt. Zum Leisetreter mutiert der neue CDU-Chef aber nicht.
Rüttelt da einer an der Brandmauer?
Dem begnadeten Rhetoriker unterlaufen weiter auffällig viele Fauxpas: Arabisch-stämmige Schüler, die den Unterricht stören, bezeichnet er als «kleine Paschas», ukrainischen Flüchtlingen wirft er «Sozialtourismus» vor und eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene schliesst er nicht mehr aus.
Den obligaten Shitstorm hält Merz aus, er rudert zurück und relativiert. Das «Muster Merz», kommentiert das ZDF: Die Grenzen des Sagbaren ausloten – und im besten Fall verschieben. Parteiinterne Kritiker orten Absicht hinter den verbalen «Ausrutschern»: Merz wolle bewusst «einen neuen Sound in der CDU etablieren», erklärt der ehemalige saarländische Ministerpräsident Tobias Hans.
Der alte weise Mann
Als die ungeliebte Ampel ausgeht, schlägt die Stunde des mittlerweile 69-jährigen Klartexters: Es darf wieder rechts überholt werden in Deutschland. In Umfragen hat sich die Union bei 30 Prozent eingependelt. Die mit Abstand stärkste Kraft im Land geht mit Merz als Kanzlerkandidaten in die Bundestagswahl vom 23. Februar.
Zum Volkstribun taugt Merz noch immer nicht. Doch der neue «Sound» verfängt in einem Deutschland, über dem sich der Himmel verdüstert hat. «Einen wie Friedrich Merz wählen die Deutschen bei schönem Wetter nicht zum Kanzler», zitiert sein Biograf Volker Resing einen namentlich nicht genannten Unionsvertreter.
Plötzlich finden Merz’ Themen und Tonfall Gehör, wie die «Süddeutsche Zeitung» schreibt: «Was einst als Schwachpunkt des CDU-Vorsitzenden diagnostiziert wurde, könnte Merz mittlerweile zum Vorteil gereichen: der wachsende Wunsch nach klaren Positionen und klaren Ansagen.»
Verzockt sich Merz auf der Zielgeraden?
Eine klare Ansage macht Merz auch, als ein ausreisepflichtiger Afghane einen zweijährigen Buben ermordet. Nach der schrecklichen Bluttat verdammt Merz die «Folgen von zehn Jahren fehlgeleiteter Asyl- und Einwanderungspolitik». Es ist der endgültige Bruch mit der Ära Merkel.
«Recht und Ordnung» möchte Merz im Zweifelsfall auch mit den Stimmen der AfD wiederherstellen. «Dammbruch, Rechtsbruch, Wortbruch!», schreien SPD und Grüne auf. Denn noch im November hat Merz im Bundestag jede Zusammenarbeit mit «einer solchen Truppe» ausgeschlossen:
Merz geht «All-In», wie er es selber ausdrückt – und hinterlässt einen «Krater in der Brandmauer». Im Bundestag hat er zu hoch gepokert: Sein «Zustrombegrenzungs-Gesetz» scheitert. Auch, weil Abgeordnete aus seiner eigenen Fraktion die Gefolgschaft verweigern.
Wie es in der Bevölkerung aussieht, werden die nächsten Wochen zeigen. Das Wahlkampfthema ist auf jeden Fall gesetzt: Es ist Friedrich Merz. Der «Schlechtwetter-Kanzler» wird beweisen müssen, wie wetterfest er ist.