«Um die humanitäre Hilfe steht es derzeit schlecht, ja miserabel», sagt Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK). Das internationale Kriegsvölkerrecht werde zu wenig respektiert. Syrien ist ein himmelschreiendes Beispiel dafür – eines von mehreren.
Der Befund kommt ein halbes Jahr nach dem UNO-Gipfel von Istanbul, der als erster Nothilfegipfel der Vereinten Nationen in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Er hätte dem Recht auf humanitäre Hilfe und dem Recht, humanitäre Hilfe zu leisten, Nachdruck verleihen sollen.
Auch die Hilfswerke sind an der Krise schuld.
Das Ergebnis des Gipfels war jedoch ernüchternd, wie Maurer feststellt. Es habe keinen Konsens darüber gegeben, wie humanitäre Hilfe aufgebaut werden müsste, damit sie wieder wirkungsvoller und glaubwürdiger werde. «Ich gehe nicht davon aus, dass die Staaten seither mehr Sensibilität bei der Notwendigkeit unabhängiger humanitärer Hilfe zeigen.»
Der IKRK-Präsident spricht gar von einer regelrechten Krise der humanitären Hilfe, und daran seien auch Hilfswerke schuld. «Es ist eine Vertrauenskrise. Und der Vorwurf ist berechtigt, weil viele humanitäre Organisationen ihre humanitäre Arbeit durchaus als Teil einer umfassenderen politischen Lösung verstehen.»
Viele humanitäre Organisationen beschränken sich heute nicht mehr auf die Nothilfe. Sie wollen mehr tun, und damit zu viel. «Wenn man humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte, humanitäre Arbeit, Entwicklungsarbeit, Friedensarbeit und strukturelle Stabilisierung von Ländern vermischt und alles als humanitär bezeichnet, muss man sich nicht wundern, wenn plötzlich der Eindruck entsteht, humanitäre Arbeit sei nicht neutral, unabhängig und unparteiisch.»
Nothilfe werde politisiert und von den Konfliktakteuren auch für ihre Zwecke missbraucht. Maurer betont, das Internationale Rote Kreuz halte das Prinzip hoch, Hilfe da zu leisten, wo Not herrsche. Es akzeptiere keine anderen Kriterien, etwa jenes nach Ausgewogenheit der Hilfe für diese und jene Seite, und engagiere sich auch nicht im Umbau von Gesellschaften.
Nothilfe wird politisiert und von den Konfliktparteien auch für ihre Zwecke missbraucht.
Deshalb kann das IKRK laut Maurer noch an Orten wie Südsomalia, Nord-Nigeria, den Taliban-Gebieten Afghanistans tätig sein – dort, wo andere aufgeben mussten. Doch selbst für das IKRK werde es immer schwieriger, zumal ein zentrales Prinzip der humanitären Hilfe ausgehöhlt werde: Stets mit allen wichtigen Akteuren in einem Konflikt zu reden.
«Das ist heute auch nicht mehr selbstverständlich garantiert. Die Terrorismus-, Antiterrorismus- sowie Extremismus-Rhetorik stellen das Gespräch mit allen Seiten als unberechtigt dar.» Dagegen kämpfe man an, doch zunehmend erfolglos, so Maurer.
Lippenbekenntnisse der Kriegsparteien
Kriegsparteien blenden die menschlichen und finanziellen Kosten eines Kriegs aus. Zwar beteuern alle Beteiligten unentwegt, etwa im Syrienkrieg, es gebe einzig eine diplomatische, eine politische Lösung.
Ihr Handeln zeuge aber vom Gegenteil, klagt Maurer: «Hinter der Rhetorik wird immer wieder die Hoffnung genährt, dass militärische Lösungen gefunden werden und man seine Interessen besser verfolgt, wenn man den Krieg noch ein bisschen weiter führt.»
Es ist auch mangelnder Wille, die Konventionen zu nutzen, um Leute zu schützen.
Die Genfer Konventionen sind für viele Regierungschefs, Rebellenführer und erst recht für Terrordrahtzieher bloss noch ein Stück Papier, auf das sie sich berufen, wenn es ihnen gerade in den Kram passt. Ansonsten scheren sie sich keinen Deut darum.
Peter Maurer drückt es etwas diplomatischer aus: «Es ist auch mangelnder Wille, diese Konventionen zu nutzen, um Leute zu schützen. Eine zu wenig rigorose Bereitschaft, die Grundidee des humanitären Völkerrechts umzusetzen.»
Das Verständnis für unabhängige humanitäre Arbeit ist in den letzten Jahren auch bei Staaten zunehmend gesunken.
Besonders übel zu nehmen ist das den staatlichen Akteuren. Denn sie sind im Wort. Sie haben die Genfer Konventionen als Vertragsstaaten unterzeichnet. Tatsächlich jedoch ist der Trend klar und eindeutig negativ.
Der IKRK-Präsident stellt bedauernd fest: «Der Raum und das Verständnis für unabhängige humanitäre Arbeit, nicht etwa nur bei bewaffneten Gruppen, sondern auch bei Staaten, ist in den letzten Jahren zunehmend gesunken.»