In der Nacht auf Sonntag tritt die in Minsk ausgehandelte Waffenruhe für die Ostukraine in Kraft, zwei Tage später sollen die schweren Waffen aus dem Frontgebiet abgezogen werden. Unterwegs in der Region Lugansk – einer der beiden Rebellenhochburgen – ist Kyryl Savin, Büroleiter der Heinrich Böll-Stiftung in Kiew. «Die Menschen glauben nicht, dass es langfristig Frieden gibt», sagt er im Interview.
SRF: Herrscht jetzt, nach Unterzeichnung des Minsker Abkommens, Zufriedenheit bei jenen Politikern in Lugansk, die Sie getroffen haben?
Kyryl Savin: Leider sieht es nicht danach aus, dass die Menschen zufrieden sind. Sie glauben nicht daran, dass es hier langfristig Frieden gibt. Viele sind skeptisch, dass die Minsker Vereinbarung eingehalten wird. Trotzdem freut man sich hier über jede noch so kurze Feuerpause, denn es herrscht fast permanenter Beschuss und die Zivilbevölkerung leidet sehr darunter.
Sie waren auch in Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine. Die liegt nicht im Rebellengebiet. Denken dort Politik und Bevölkerung anders?
Nein, dort herrscht in etwa die gleiche Sicht auf das Minsker Abkommen. Man hofft sehr, dass nun der Frieden Einzug hält in der Ukraine. Die Ukrainer in Charkiw, im Osten, in Kiew und auch im Westen wollen Frieden und langfristig von Russland in Ruhe gelassen werden. Allerdings bleiben nach dem Minsker Abkommen viele Fragen offen, es wird bezweifelt, dass es zu einem langfristigen Frieden führen wird.
Laut der Minsker Vereinbarung bleibt die Ukraine territorial unversehrt, ukrainische Truppen sollen die 400 Kilometer lange Grenze zu Russland überwachen und ausländische Kämpfer müssen die Ostukraine verlassen: Das ist doch ein empfindlicher Schlag für die Separatisten?
Die letzten beiden Punkte sind sehr wichtig. Doch viele bezweifeln, dass Russland alle seine Truppen und schweren Waffen aus der Ukraine abzieht und dass die Russen den ukrainischen Truppen die Überwachung der Grenze auf ukrainischer Seite wirklich überlassen. Wenn die beiden Punkte aber nicht umgesetzt werden, wird der Krieg früher oder später weitergehen.
Wegen Putin ist bei den Verhandlungen nicht mehr herausgekommen.
Sie sind nicht sehr optimistisch, was den Erfolg dieser neuen Vereinbarung angeht. Auf wen oder was führen Sie es denn zurück, dass bei diesem fast 17-stündigen Verhandlungsmarathon in Minsk nicht mehr herauskam?
So wie wir das mitgekriegt haben, ist dafür wohl die ziemlich harte Position Putins verantwortlich. Er wollte nicht, dass eine langfristige, politische Lösung zustande kommt. Es gab ja zwei Gruppen, die verhandelt haben: Die sogenannte Kontaktgruppe mit Frau Tagliavini als OSZE-Vertreterin sowie Vertretern der Ukraine, Russlands sowie der beiden Rebellengebieten Lugansk und Donezk. Sie haben eigentlich das verhandelt, was nun herausgekommen ist, das sogenannte Minsk-II-Abkommen. Daneben gab es das sogenannte Normandie-Format mit Merkel, Hollande, Poroschenko und Putin. Sie haben stundenlang über eine umfassende politische Lösung des Konflikts verhandelt. Und da gibt es, wie bekannt, kein Ergebnis, weil keine Einigung gefunden werden konnte.
Trotz Abkommen wird in der Ostukraine weiter gekämpft. Wie erklären Sie es sich, dass die leidgeprüfte Bevölkerung in den umkämpften Gebieten noch zwei Tage auf eine Feuerpause warten muss?
Es ist tatsächlich sehr schwierig nachzuvollziehen, wieso man mit dem Krieg noch drei Tage weiterführt, und die Waffenruhe nicht sofort in Kraft setzt. Das heisst nichts anderes, als die beiden Kriegsparteien noch drei Tage lang versuchen können, die Grenze zu verschieben. Vor allem von separatistischer Seite wird das jetzt offensichtlich versucht. Für die etwa 5000 ukrainischen Soldaten in der Region Debalzewe könnte das bedeuten, nun eingekesselt oder sogar vernichtet zu werden. Die offizielle Erklärung für die verzögerte Inkraftsetzung der Waffenruhe ist, dass auch der letzte Soldat und Kämpfer über die Minsker Vereinbarung ins Bild gesetzt werden muss, die Befehlsketten aber sehr lang sind. Ich persönlich denke aber, 24 Stunden hätten dafür reichen müssen.
Alles in allem äussern Sie sich sehr pessimistisch, was ein Frieden in der Ukraine angeht...
Ich würde sagen, ich bin eher realistisch. Ich wünsche meinem Land und ganz Europa, dass hier langfristig Frieden herrscht und dass Minsk II nachhaltige Folgen hat. Leider zeigt meine politische Erfahrung und der bisherige Verlauf des Kriegs in der Ostukraine, dass das nicht unbedingt so kommen wird. Die weitere Entwicklung wird es zeigen, schon in einer Woche werden wir schlauer sein als heute.
Das Interview führte Tina Herren.