SRF: Bereitet sich die Nato an diesem Gipfel auf einen möglichen Krieg gegen Russland vor?
Fredy Gsteiger: Nein, das kann man ganz klar verneinen. Die Position der Nato seit Beginn des Ukraine-Konfliktes ist klar: Das Militärbündnis will und wird wegen der Ukraine nicht Krieg führen. Aber die Nato muss und wird Krieg führen, falls Russland auf Nato-Mitgliedländer übergreifen sollte. Das ist im Moment eine Hypothese – für die man sich wappnen muss.
Dennoch: Der russische Präsident Wladimir Putin zeigt immer unverhohlener, dass er Grenzen nicht respektiert. Wie kann die Nato Russland hier die Stirn bieten?
In der Ukraine selber sind die Einflussmöglichkeiten der Nato begrenzt. Auch – und vor allem – ist der politische Wille klein, dort aktiv zu werden. Die Nato unterstützt die ukrainische Armee als Beraterin. Es handelt sich dabei aber eher um eine indirekte Hilfe.
Wenn es sein müsste, könnte die Nato Russland aber durchaus die Stirn bieten. Im Fall eines russischen Übergriffs auf Nato-Territorium wäre das Bündnis militärisch im Stande, einen solchen Übergriff zu parieren. Die Nato ist militärisch und technologisch weitaus stärker als Russland. Die russischen Streitkräfte werden tendenziell im Westen eher überschätzt. Es gibt inzwischen zwar ein paar gut ausgebildete Einheiten. Aber das Gros der russischen Armee ist immer noch ziemlich rückständig.
Die osteuropäischen Länder fühlen sich am meisten durch Russland bedroht. Wie lauten deren Forderungen an die Nato?
Die unmittelbare Forderung an die Nato lautet: «Macht sichtbar, dass ihr uns unterstützen würdet, koste es was es wolle!» Die Nato könnte dies tun, indem sie beispielsweise grosse Manöver inszeniert. Damit hat sie dieses Jahr bereits begonnen. Weiter fordern die Osteuropäer, dass die Nato westliche – also auch amerikanische, deutsche und englische – Truppen in den Ländern stationiert. Hier verhält sich die Nato aber zögerlich. Denn dies würde einen alten Vertrag mit Russland verletzten. Die Minimalforderung Osteuropas an die Nato lautet, die Bündnis-Eingreiftruppe zu stärken, flexibler und schneller zu machen, um Putin ein klares Signal zu senden.
Werden die 28 Mitgliedstaaten den Forderungen Osteuropas entsprechen?
Darum werden die Staaten am Gipfel ringen. Die Osteuropäer sind einigermassen zuversichtlich, dass es ihnen gelingen wird, das Bewusstsein zu stärken, dass man nun wirklich handeln muss. Vieles, das getan werden müsste, kostet allerdings sehr viel Geld und braucht Truppen. Ein Grossteil der Nato-Armeen – vor allem die West- und Südeuropäischen Länder – haben ihre Armeen eher in einem Friedensmodus.
Auf welche Armeen kann sich denn die Nato überhaupt noch verlassen?
Die US-Armee ist mit grossem Abstand die kampfstärkste, grösste und technologisch fortschrittlichste Armee. Länder wie Frankreich, Grossbritannien und vermutlich auch die Türkei verfügen über relativ effiziente Armeen. Zum Teil gilt das auch für Deutschland. Tatsache ist aber, dass in den meisten Nato-Mitgliedsstaaten das Rüstungsbudget sehr viel kleiner ist, als von den Nato-Richtlinien eigentlich vorgesehen. Nur noch die USA, Frankreich und Grossbritannien halten sich daran.
Die Ukraine-Krise wird Hauptthema am Nato-Gipfel sein. Bleibt überhaupt noch Raum für andere Diskussionen?
Die Nato muss Raum machen für andere Themen. Denken wir nur an die Probleme im Nahen Osten mit den Terrormilizen des sogenannten islamischen Staats (IS). Hier muss das Militärbündnis auch Rezepte finden. Zur Diskussion steht die noch stärkere Unterstützung der Kurden im Nordirak. Das ist aber intern nicht unumstritten, die Türkei ist davon nicht begeistert. Ein weiteres Thema ist Afghanistan: Dort geht zwar der Kampfeinsatz zu Ende. Doch ein bescheidenerer Einsatz soll weitergehen – wie ist allerdings noch unklar. Zudem muss die Nato sich Cyber-Angriffen und dem internationalen Terrorismus widmen.