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Ding Liren Weshalb Chinas Schach-Weltmeister aus dem Rahmen fällt

Ding Liren triumphiert in der kasachischen Hauptstadt Astana gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi und wird als erster Chinese Schach-Weltmeister. Experte Ulrich Stock erklärt, warum Ding ein ungewöhnlicher Spieler ist und inwiefern sich Peking für den Sport interessiert.

Ulrich Stock

Schachexperte

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Ulrich Stock ist ein deutscher Journalist. Seit den 1980er-Jahren arbeitet er als Reporter bei der Wochenzeitung «Die Zeit». Einer seiner Schwerpunkte ist Schach.

SRF News: Weshalb ist Ding ein besonderer Schachspieler?

Ulrich Stock: Ich habe vor der ersten Runde mit ihm gesprochen und war vollkommen überrascht: Die letzten Schachweltmeisterschaften zeichneten sich immer dadurch aus, dass die Teilnehmenden sich monatelang vorbereitet haben und ich hatte den Eindruck, dass Ding, der sowieso als Einzelgänger bekannt ist, dies nur sehr hemdsärmelig betrieben hat und in vielem auch nicht so aufgetreten ist, wie man es eigentlich kennt.

Diese Art von schlechter Geheimhaltung kombiniert mit Offenherzigkeit, das ist ganz ungewöhnlich.

Zum Beispiel sagte er mir im Gespräch, er habe auch einen Sekundanten (Helfer), aber er wolle mir nicht sagen, wer das ist. Nun ist das nicht ungewöhnlich: Die Spieler verraten das nicht, bevor es losgeht, damit man aus der Person nicht irgendwas ableiten kann. Aber dann am nächsten Tag wurde es gleich schon bekannt: Es war der ungarische Grossmeister Richard Rapport. Er fuhr nämlich im Fahrstuhl durch die Gegend und konnte gleich zugeordnet werden. Diese Art von schlechter Geheimhaltung kombiniert mit Offenherzigkeit, das ist ganz ungewöhnlich.

Ist Dings Spiel von der chinesischen Regierung beeinflusst?

Ich habe Ding in unserem Gespräch gefragt, ob er Kontakt zur Regierung gehabt hätte. Das hat er bestritten. Und da er bei anderen Fragen immer sehr offenherzig geantwortet hat, habe ich zunächst einmal auch keinen Grund, daran zu zweifeln.

Er ist auch der erste Chinese, der mit einem westlichen Grossmeister zusammenarbeitet.

Er ist insofern auch für chinesische Verhältnisse oder so, wie wir sie uns vorstellen, ungewöhnlich, weil er eine ausgeprägte Individualität hat. Er ist auch der erste Chinese, der mit einem westlichen Grossmeister zusammenarbeitet. Das gab es bislang noch nicht.

Wie gross war das mediale Interesse von chinesischer Seite?

Das zählt zu den ganz wundersamen Dingen: Der Presseraum bei der WM war gefüllt mit russischen Medien. Aber es gab nicht einen einzigen Chinesen, der da war.

Es gab nicht einen einzigen Chinesen, der da war.

Ich habe mich über Kollegen in Peking erkundigt, wie das Medienecho in China ist. Man hat mir dann ein paar Artikel geschickt und da sind tatsächlich Berichte über die Schach-WM drin, die sozusagen aus zweiter Hand zitieren. Aber dass vor Ort gar keiner war, ist schon sehr seltsam.

Warum dauert es über drei Jahrzehnte, bis nun ein Mann den WM-Titel für China gewann?

Das habe ich Xie Jun, die erste chinesische Weltmeisterin, gefragt. Sie hat mir vom Vier-Stufen-Plan erzählt: erst die Frauen, dann die Männer, erst die Mannschaft, dann Einzel. Die WM, die wir jetzt hatten, war zwar eine offene Schachweltmeisterschaft, aber es gibt aus verschiedenen Gründen extra Frauenwettbewerbe. Und das Niveau dieser Wettbewerbe liegt unter der Spielstärke der Männer, weshalb die chinesischen Funktionärinnen und Funktionäre sich gedacht haben, wir fangen da an, wo wir leichter an das Niveau herankommen. Und es hat geklappt. Frauenschach wird von Chinesinnen dominiert.

Wer wird sich künftig als Schachnation etablieren können?

In den letzten paar Jahren hat ein unglaublicher Schachboom in Indien eingesetzt, dem Mutterland des Schachs. Wir hatten ja auch vor ein paar Jahren noch einen indischen Weltmeister, Viswanathan Anand. Es gibt auch junge Usbeken, die wahnsinnig stark sind, während man von den Chinesen zuletzt weniger gehört hat. Von den Männern jedenfalls.

Das Gespräch führte Oliver Kerrison.

4x4 Podcast, 01.05.2023, 10:18 Uhr ; 

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