Putins Soldaten warten bis auf die Zähne bewaffnet vor der Grenze, die Grossmächte verhandeln über das eigene Schicksal: Wie ist das für die Menschen in der Ukraine? Was bedeutet es, sich auf einen möglichen Krieg vorzubereiten? Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow lebt in Kiew. Er berichtet von Menschen, die kein Spielball der Grossmächte sein wollen – und bereit sind, für ihre Freiheit zu kämpfen.
SRF News: Wie ist die momentane Stimmung in der Ukraine, wie geht es den Menschen?
Andrej Kurkow: Es gibt keine Panik. Ich war eben erst in einem Café in Kiew. Das Leben sieht ganz friedlich aus. Aber natürlich kursieren viele Informationen über die russische Armee und Aussagen der europäischen und amerikanischen Politiker. Und erst heute verkündete Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, dass das U-Bahnnetz der Stadt im Falle eines russischen Angriffs zum Hauptluftschutzbunker werden soll.
Ich kann mir vorstellen, dass die aktuelle Situation in Kiew anders empfunden wird als in der Ostukraine, im Donbass, wo der Krieg bereits seit Jahren Realität ist.
Es gibt Unterschiede. Ich bin in Kontakt mit Freunden in Charkow, einer Stadt mit einer Million Einwohnern, die nur dreissig Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist. Dort ist alles still. Es spielt aber auch Fatalismus hinein. Die Menschen in der Ukraine verstehen, dass sie nichts tun können. Die Verhandlungen werden zwischen Russland und den westlichen Ländern geführt. Die Ukrainer warten auf ein hoffentlich positives Resultat dieser Verhandlungen.
Viele Menschen in der Ukraine sind für die Verteidigung des Landes vorbereitet.
Wie fühlt es sich an, wenn man nur zuschauen kann, wie die Grossmächte über das eigene Schicksal verhandeln, fühlt man sich als Spielball der Weltpolitik?
Es ist etwas traurig. Vielleicht übertreibe ich auch. Aber viele Menschen in der Ukraine sind für die Verteidigung des Landes vorbereitet. Jeder kann sich im Umgang mit Waffen ausbilden lassen, oder sich medizinische Kenntnisse zur Pflege von Kriegsverwundeten aneignen. Heute rief mich ein Freund an und fragte mich, ob ich auch «Kriegsmedizin» in zwei Wochen studieren möchte, denn er organisiere eine Gruppe.
Sind die Ukrainerinnen und Ukrainer wirklich bereit, sich im Ernstfall zu verteidigen?
Ich glaube, dass die Mehrheit von ihnen bereit ist, für die Unabhängigkeit des Landes und für ihre Freiheit zu kämpfen. Die Gefahr ist einfach zu gross, all dies zu verlieren. Die Ukrainer unterscheiden sich mittlerweile stark von den Russen, dass niemand mehr zurück ins sowjetische System will. Die Menschen sehen ja, was aus Russland geworden ist. In dem Staat gibt es praktisch ein Polizeiregime. Die Ukrainer schätzten ihre Freiheit schon immer. Es ist sehr wichtig für sie, dass das Land frei und unabhängig bleibt. Ich bin mir sicher, dass es viele Freiwillige geben wird, die wie 2014 Richtung Donbass gehen werden – diesmal eben an eine andere Frontlinie.
Putin bleibt unberechenbar. Er spielt gerne mit Falschinformationen über russische Pläne.
Das ukrainische Militär gilt als klar unterlegen. Gibt es in der Ukraine trotzdem Zuversicht, dennoch etwas gegen die russischen Truppen ausrichten zu können?
Die ukrainische Armee ist viel kleiner als die russische Armee. Die russische Seite ist aber nicht schlagkräftig genug, um das Land zu kontrollieren. Dafür bräuchte sie eine halbe Million Soldaten. Derzeit geht es um lokale Aggressionen am Donbass, der administrativen Grenze zur Krim oder von belarussischer Seite. Es werden viele Soldaten und Kriegsmaterial aus Russland für Übungen nach Belarus geschickt, in unmittelbarer Nähe zur ukrainischen Grenze.
Muss man in der Ukraine nicht einfach darauf hoffen, dass Russland es nicht ganz ernst meint?
Man weiss es nicht. Putin bleibt unberechenbar. Er spielt gerne mit Falschinformationen über russische Pläne.
Sie schreiben Ihre Bücher auf Russisch und sind in Russland geboren. Fühlen Sie sich als Russe oder als Ukrainer?
Ich bin politischer Ukrainer. Meine Muttersprache ist russisch. Wenn jemand Russisch spricht, heisst das aber nicht automatisch, dass diese Person pro-russisch oder für Putin ist. Die neue Generation spricht mehr ukrainisch, meine Generation sehr oft russisch – bis heute.
Die russische und die ukrainische Geschichte sind eng miteinander verwoben. Könnten Sie sich eine Wiedervereinigung vorstellen?
In vielen Jahren, ja. Aber nicht in den nächsten zwanzig oder dreissig Jahren. Und sicher nicht, solange Putin der Präsident Russlands bleibt.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.