Bolivien kommt nach dem Rücktritt von Präsident Evo Morales nicht zur Ruhe. Angesichts der eskalierenden Gewalt hat die Polizei das Militär um Hilfe gebeten. Dem führungslosen Land drohe weiteres Chaos, befürchtet die Journalistin Katharina Wojczenko.
SRF News: Wie ist die Lage derzeit in La Paz, wo sich der Regierungssitz Boliviens befindet?
Katharina Wojczenko: Die Menschen sitzen in den einzelnen Nachbarschaften vor ihren Häusern und halten Nachtwache. Sie haben Feuer angezündet und sind mit Holzstöcken und Helmen ausgerüstet. Sie befürchten, dass Anhänger von Evo Morales ihre Häuser angreifen und plündern könnten. Die Innenstadt von La Paz dagegen präsentiert sich fast menschenleer.
Können Sie sich in La Paz überhaupt noch frei bewegen?
Am Montag wurde das tatsächlich zu gefährlich. Ich war am Nachmittag gerade daran, eine Frau zu interviewen, als die Warnung kam, dass Anhänger von Morales einzelne Stadtviertel angreifen würden. Die Nachbarn verständigen sich untereinander in einer WhatsApp-Gruppe, um vor Gefahren zu warnen.
Aus ganz La Paz gab es Berichte, dass die Anhänger von Morales Häuser plünderten und anzündeten.
Wir eilten zum Wohnblock der Frau. Die Leute dort hatten das Tor mit Wellblech abgesperrt und sich mit Stöcken, Schaufeln und Helmen ausgerüstet, um sich gegen einen möglichen Angriff zu verteidigen. Aus der ganzen Stadt gab es Berichte, dass die Anhänger von Morales Häuser plünderten und anzündeten.
Jetzt unterstützt die Armee die Polizei, um gegen die Randalierer vorzugehen. Beruhigt das die Lage?
Die Leute in dieser Wohnanlage reagierten ob dieser Nachricht auf jeden Fall mit grosser Erleichterung.
Am Sonntag feierten die Bolivianer den Rücktritt von Morales. Wieso ist die Stimmung danach derart gekippt?
Tatsächlich herrschte zunächst eine grosse Freude. Doch dann wurden die Reaktionen aus dem Ausland bekannt, wonach Morales gestürzt worden sei. Das hat die Bolivianer, die friedlich für den Rücktritt Morales’ gekämpft hatten, sehr gekränkt.
Morales' Anhänger griffen gezielt Häuser von Oppositionellen an und steckten sie in Brand.
Kurz darauf fingen zudem die Plünderungen durch die Anhänger des abgetretenen Präsidenten an. Sie griffen gezielt Häuser von Oppositionellen an und steckten sie in Brand. Auch Rathäuser von Bürgermeistern, die gegen Morales waren, gingen in Flammen auf, wie auch mehr als 60 Busse des öffentlichen Verkehrs.
Morales hat das Land jetzt in Richtung Mexiko verlassen. Wie reagieren die Menschen auf diese Nachricht?
Es herrscht ein möglicherweise etwas trügerischer Frieden. Morales teilte per Twitter ja mit, er werde schon bald und stärker zurückkehren. Jene, die gegen Morales auf die Strasse gegangen waren, empfinden das als Drohung. Sie befürchten, dass er die Gewalt aus dem Ausland weiter anstacheln könnte und Bolivien deshalb nicht zur Ruhe kommt.
Wie stark ist die Befürchtung in Bolivien, dass das Chaos im Land anhalten könnte?
Viele Menschen haben grosse Angst, dass es Polizei und Armee nicht schaffen, die Plünderungen zu verhindern. Zudem muss mittelfristig nicht nur die gewalttätige Gruppe gestoppt werden, sondern es muss auch politisch weitergehen. Die beiden Pole aus Morales-Anhängern und -Gegnern müssen sich wieder versöhnen. Doch die Sorge ist gross, dass das nicht so einfach gehen wird.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.