Der Platz vor dem Weissrussischen Bahnhof in Moskau ist praktisch menschenleer – bis auf ein paar Figuren in knallgelben und knallgrünen Uniformen: Es sind Kuriere, die Essen aus Restaurants oder Lebensmittel aus Supermärkten zu ihren Kunden bringen.
«Wegen des Virus arbeiten wir neuerdings kontaktlos. Wir stellen alles vor die Wohnungstür, machen ein paar Schritte zurück und warten, bis der Kunde die Ware nimmt», sagt Ilaman, der für Delivery Club arbeitet, einen der grossen Restaurant-Lieferdienste. Der 22-Jährige steht mitten auf dem Platz und wartet mit Kollegen auf den nächsten Auftrag. Wie die meisten Kuriere stammt er aus Kirgistan in Zentralasien.
Die «Gastarbeitery», wie sie in Russland genannt werden, haben oft einen schweren Stand. Manche Einheimische schauen von oben auf sie herab, es gibt Fälle von offenem Rassismus. «Die Russen behandeln uns in der Regel ganz okay. Aber nicht immer, wir machen auch andere Erfahrungen», sagt Ismail.
Jetzt allerdings, in Corona-Zeiten, erhalten die Kuriere erstmals richtig Anerkennung. Die Zeitung «Wedomosti» berichtete kürzlich, für die in ihren Wohnungen eingesperrten Moskauerinnen und Moskauer seien die Kuriere gleichsam «der lebendige Beweis dafür, dass die Welt da draussen noch existiert.» Stellvertretend für viele erzählt eine Moskauerin, die wegen Corona ihre Wohnung kaum mehr verlässt: «Ohne die Kuriere hätte ich ein Problem. Sie bringen mir alles, was ich brauche.» Seltenes Lob für Leute, die sonst wenig Beachtung finden in der glitzernden russischen Hauptstadt.
E-Commerce ist in Moskau schon vor der Krise ein boomendes Geschäft gewesen. Es gibt nichts, was sich der bewegungsfaule Städter nicht nach Hause liefern kann. Besonders bei Lebensmitteln ist die Konkurrenz gross, seit der Internetkonzern «Yandex» ins Geschäft drängt. Die Firma wirbt damit, dass die Einkäufe innert 15 Minuten nach Eingang der Bestellung beim Kunden sind. Das funktioniert dank zahlreicher dezentraler Lager – und weil die Kuriere Akkordarbeit leisten.
Der Job sei hart, sagen die jungen Männer vor dem Weissrussischen Bahnhof denn auch. «Wir arbeiten 14 oder auch mal 20 Stunden. Je nachdem», erklärt Ilaman. 800 bis 900 Franken verdiene er pro Monat.
Einen grossen Teil davon schickt er in die Heimat wie die meisten seiner Landsleute. Zentralasien hat einst zur Sowjetunion gehört. Die Länder sind inzwischen unabhängig, aber grösstenteils sehr arm. Für viele Junge gibt es nur eine Möglichkeit, Geld zu verdienen: als Gastarbeiter in Russland. Sie machen die Jobs, die sonst niemand will: Taxifahren, putzen oder eben als Kuriere Bestellungen liefern.
Finanziell bringe ihnen die Coronakrise bisher nicht viel, sagen Ilaman und seine Kollegen. Zwar meldet die ganze E-Commerce-Branche Rekordumsätze. Aber es gibt nicht nur mehr Bestellungen, sondern auch mehr Kuriere. Zahlreiche Kellner, Bauarbeiter und Taxifahrer, die wegen der Krise den Job verloren haben, haben umgesattelt.
Während des Interviews schauen die Kuriere vor dem Weissrussischen Bahnhof immer wieder auf ihre Handys. Und einer nach dem anderen verabschiedet sich – auf zu einer neuen Bestellung.