Taavi Kotka ist ein begnadeter Redner. Ob in Australien oder diese Woche in Biel, der Unternehmer und Informatiker hat mit seinen frechen Sprüchen und kurzweiligen Geschichten das Publikum schnell im Sack. Er erzählt, wie man irgendwo auf der Welt zu einer E-Residency kommt, einer virtuellen Aufenthaltsbewilligung, die es einem ermöglicht, eine Firma in Estland zu gründen, ohne das Land je besucht zu haben.
Digitale ID im Kredikartenformat
Der Prozess dahinter ist einfach: Interessenten füllen zuerst auf einer Webseite der estnischen Regierung ein Formular aus und bezahlen 100 Euro. Wird dem Antrag stattgegeben, bekommt man eine digitale ID und kann den Ausweis im Kreditkartenformat auf einer estnischen Botschaften abholen. In der Schweiz ist das noch nicht möglich.
Der Ausweis gleicht dem, den jede Bürgerin, jeder Bürger in Estland bekommt. Auf dem Kärtchen ist ein Chip, auf dem die digitale Identität festgehalten ist und mit dem man Dokumente digital signieren oder verschlüsseln kann.
Diese Funktionen bilden die Grundlage für unzählige Dienste, die die estnische Regierung ihren Bürgern anbietet. Von der Steuererklärung bis zur Krankengeschichte wird alles nur noch digital verwaltet.
Zugang zum europäischen Markt
Der Grund für dieses breite digitale Angebot der estnischen Regierung für ihre Bürger liege in der Geographie, sagt Taavi Kotka.
Bei einer Bevölkerungsdichte von 4 Menschen pro Quadratkilometer sei es unmöglich, Dienstleistungen auf traditionelle Art anzubieten, erklärt er. Für eine Bank etwa lohnt es sich nicht, ausserhalb der Hauptstadt Tallin eine Filiale zu betreiben. Die Regierung setzte deshalb früh auf digitale Technologie. Voraussetzung dafür war eine digitale Identität.
Seit Januar 2015 bietet die Regierung auch Ausländern eine digitale Identität an. Abstimmen können sie damit nicht, dafür aber von irgendwo in der Welt in Estland eine Firma gründen, komplett mit physischer Adresse und Bankverbindung. Das dauere bloss 18 Minuten, schwärmt Taavi Kotka, der zwischen 2013 und 2017 als Chief Information Officer das Projekt entscheidend mitgeprägt hat
Ein koreanischer Unternehmer in Seoul zum Beispiel hat dann Zugang zum europäischen Markt – und das, obwohl er vielleicht nie einen Fuss auf den europäischen Kontinent gesetzt hat.
Keiner will nach Estland
Mit diesem Programm will Estland wirtschaftliches Wachstum generieren. Die Regierung möchte die Zahl der Einwohner erhöhen – doch kaum jemand will nach Estland ziehen, nicht einmal Asylbewerber: Sieben seien im letzten Jahr gekommen, erzählt Taavi Kotka. Und die seien wahrscheinlich schon wieder weg.
Den Grund sieht er in den langen, kalten Wintern. Dazu kommt, dass Estland nicht den gleichen Wohlstand bieten kann wie etwa Schweden oder Norwegen mit vergleichbarem Klima.
Missbrauch verhindern
Taavi Kotka legt in seinen Präsentationen Wert darauf, dass die estländische Regierung mit der E-Residency nicht ein neues Steuerparadies gründen will. Wer im baltischen Staat mit einer virtuellen Aufenthaltsbewilligung geschäftet, muss an seinem Wohnort steuern bezahlen.
Potenzial sieht die estländische Regierung bei den Dienstleistungen, die rund um das neue Konzept entstehen, darunter Banken, Buchhalter und Berater. Die Regierung listet auf der Webseite ein paar Dutzend Anbieter auf, die bei einer Firmengründung behilflich sind.
Steht die Schweiz unter Zugszwang?
Taavi Kotka ist überzeugt, dass sich das Konzept der virtuellen Aufenthaltsbewilligung durchsetzen wird. Noch hat Estland zwar keine direkten Konkurrenten. Länder wie Spanien, Holland, Singapore oder Kroatien seien aber daran, die E-Resistency zu studieren.
Es sei nur eine Frage der Zeit, bis andere Staaten das Modell übernehmen. «Historisch gesehen lebten die Leute, die mit einem Wirtschaftsraum verbunden sind, meistens auch an diesem Ort oder besuchten ihn als Touristen. Wir haben mit der E-Residency bewiesen, dass es auch anders geht», sagt der Querdenker.
Er warnt davor, dass die herkömmlichen Aufenthaltsbewilligungen genau so schnell zum Opfer der Digitalisierung werden können, wie der CD-Laden um die Ecke. Der Schweiz fehle der Stachel im Fleisch, der Schmerz, der eine Veränderung unumgänglich mache. «Darum sprechen die Schweizer nur über die Digitalisierung statt zu handeln. Und Staaten, die jetzt nicht handeln, werden zurückfallen», ist Taavi Kotka überzeugt.
Auch binäre Bäume wachsen nicht in den Himmel
Wie selbstbewusst Taavi Kotka sein neues Modell auch anpreisen mag, ganz so einfach ist das mit der virtuellen Aufenthaltsbewilligung und dem eigenen Geschäft nicht.
Noch sind nämlich wichtige Fragen zum Steuerstatus ungeklärt, wie er selber zugibt: «Das ist ein Graubereich. Wir haben noch keine Abkommen mit allen Regierungen. Unsere Absicht ist, dass jeder in seinem Ursprungsland Steuern bezahlt, dass wir die Steuern einziehen und weiterleiten», präzisiert er im Interview, was in seinen Präsentationen vor Publikum jeweils unerwähnt bleibt.
Dazu kommt, dass auch viele juristische Fragen noch nicht geklärt sind, zum Beispiel, welches Gericht in einem Streitfall zuständig ist. Angesichts der Komplexität, dürften sich diese Fragen auch nicht so schnell aus dem Weg räumen lassen.