Seit April sucht Julio Rendón nach seinem Vater. Er starb im Alter von 65 Jahren in einem Spital in Guayaquil, sein Körper verschwand aus der Leichenkammer. Es war zu der Zeit, als die Stadt im Corona-Chaos versank: Das Gesundheitssystem war überfordert. Tote lagen auf den Strassen oder tagelang in den Wohnungen, bevor sie abgeholt wurden.
«Es ist ein einziges Leiden, jeden Tag neu, nicht zu wissen, wo er ist», sagt der Sohn. Bis vor Kurzem arbeitete er auf einer Tankstelle. «Ich bin am Ende. Wegen der ganzen Suche, auf allen Friedhöfen, habe ich meine Arbeit verloren.»
Leichen sind spurlos verschwunden
Immer wieder schauen er und seine Mutter ein Handyvideo an, das den Vater bei seinem Geburtstag im letzten Oktober zeigt: Lächelnd, vor ihm der Geburtstagskuchen. «Wo ist er nur? Das macht mich krank», sagt Julios Mutter. «Ob er mit einer anderen Familie begraben ist?» Die Rendóns sind nicht alleine mit ihrem Schmerz: Mehr als 200 Körper verschwanden spurlos.
Es hätte nicht so kommen müssen, sagt Juan Montenegro. Er leitete damals die Gerichtsmedizin und ist frustriert. Der Gesundheitsminister hatte ihn um Rat gebeten. Montenegro schlug vor, eine zentrale Leichenhalle einzurichten, mit der notwendigen Kühlung: «Auf der einen Seite die identifizierten Leichen, auf der anderen die noch zu identifizierenden. Das hätte es den Angehörigen leichter gemacht, die Körper zu finden», erklärt der Forensiker.
Angehörige verlangen DNA-Tests
An Stelle einer zentralen Leichenhalle wurden Container verwendet, um die Körper aufzubewahren – und da begann das Problem, sagt Montenegro: «Die Container waren nicht ausreichend gekühlt, sie haben sich in Mikrowellen verwandelt. Deshalb sind die Körper sehr schnell verwest und viele wichtige Eigenschaften, die es für die Identifizierung braucht, sind verloren gegangen.» Das Vertrauen in die Behörden hat Montenegro verloren. Er traut sich auszusprechen, was nur wenige sagen: Natürlich hoffe er es nicht, aber das Drama könne sich wiederholen.
Gemeinsam mit 40 anderen Angehörigen verlangt Julio Rendón, unterstützt von einem Anwalt, dass die Identität aller Toten geklärt wird, durch DNA-Proben. Auch wollen sie eine Entschädigung fordern.
Der Staat habe wichtige Informationen zurückgehalten, sagt Anwalt Héctor Vanegas: «Die Familien fragten: Wo ist der Körper? Es hiess: Der wurde längst begraben. Sie müssen nur auf unserer Webseite nachschauen, auf welchem Friedhof und wo genau er dort liegt. Aber sie sagten nicht, dass mehr als 200 Körper nicht identifiziert worden waren.»
«Wo sind all die Toten?»
Es habe sogar Fälle gegeben, in denen von verzweifelten Angehörigen Bestechungsgelder verlangt wurden, um sie auf der Suche nach einem Toten in die Container zu lassen, sagt Anwalt Vanegas. Ecuador zählt inzwischen 120'000 Infizierte, fast 7'000 Menschen sind gestorben. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.
Immer wieder protestieren die Angehörigen. «Wo sind all die Toten?», fragt Fanny Cruz Vera, die ebenfalls ihren Vater sucht. «Die Regierung sagt uns nichts! Es heisst ausserdem, die Pandemie sei unter Kontrolle, aber sie geht weiter. Immer noch sterben Menschen in den Spitälern. Warum lügen sie uns an?»
Julio Rendón ist ebenfalls bei dem Protest dabei. «Wir fordern, dass die Regierung die Identifizierung der Körper vornimmt und in meinem Fall, dass die Suche nach meinem Vater beschleunigt wird.»