Mustafa serviert Tee und eine Auswahl seiner getrockneten Aprikosen. Die goldgelben sind geschwefelt und halten länger. Die bräunlichen, unbehandelten schmecken kräftiger, aber verderben schneller.
Mustafa ist Händler am grossen Aprikosenmarkt von Malatya. An diesem Umschlagplatz kommen die frisch entsteinten Aprikosen aus allen Dörfern in der gleichnamigen Provinz um die Stadt Malatya zusammen und werden an die Grossexporteure weiterverkauft. Zwei Drittel der getrockneten Aprikosen im internationalen Handel stammen aus dieser anatolischen Hochebene.
Malatyas Entwicklung unter der AKP-Regierung
Die Provinz Malatya hielt fest zu Recep Tayyip Erdogan, seit dieser vor bald zwanzig Jahren mit seiner religiös-konservativen Partei AKP die ersten spektakulären Wahlsiege errang und sich anschickte, die Türkei umzukrempeln.
Bei den Gemeindewahlen vor zwei Jahren verlor Erdogan die grössten Städte der Türkei an die wichtigste Oppositionspartei, die kemalistische CHP. Hier in Malatya dagegen stimmten immer noch zwei Drittel für die AKP, die Partei für «Gerechtigkeit und Aufschwung». Auch Mustafa. Er wird es wieder tun. Die Opposition mache den Präsidenten schlecht. «Sehen Sie doch, wie sich die Türkei entwickelt hat, seit Erdogan an der Macht ist», sagt er und verweist auf die Infrastruktur.
So entstand in den letzten zwei Jahrzehnten ein Netz von modernen Strassen – nicht nur in den Grossstädten im Westen der Türkei, sondern auch hier in Ostanatolien. Es ist ein Segen für die lokale Bevölkerung und ein breitspuriges Zeugnis für die Tatkraft von Erdogan, der für die AKP die Glühbirne als Parteisymbol wählte.
Ein neues Teilstück auf der Autobahn Richtung Osten wurde erst vor ein paar Monaten eingeweiht, mit einer eleganten Hängebrücke über den Euphrat.
Mustafa, der Aprikosenhändler, glaubt fest an die leuchtende Zukunft der Partei mit der Glühbirne. Ihm gefallen auch die Entwicklungen am Aprikosenmarkt, dieser soll demnächst umziehen an einen neuen Standort, der die neuesten Hygienestandards erfüllt. Ein neues Kühlhaus ist schon in Betrieb. Auch das sei der Regierung in Ankara zu verdanken.
Tatsächlich war die Ära Erdogan von Beginn weg geprägt von gewaltigen Investitionen in die Infrastruktur. In den ersten Jahren floss viel billiges Geld aus dem Ausland ins Land, das machte einen veritablen Bauboom möglich.
Doch in den letzten Jahren rutschte die Türkei immer stärker in die Krise. Die angehäufte Auslandschuld bremst die Entwicklung, die Teuerung hat neuerdings selbst nach offiziellen Angaben fast 20 Prozent erreicht. Und die sprunghafte Politik des Präsidenten lässt ausländische Investoren zweifeln.
Die Stadt der Aprikosen in der Krise
Malatya hat sich gemacht. Noch im letzten Jahrhundert war der ganze Osten der Türkei von Abwanderung gezeichnet. Millionen Arbeitssuchende aus den wenig entwickelten Gebieten Anatoliens zogen nach Westen, vor allem in die Wirtschaftsmetropole Istanbul.
Inzwischen ist Malatya selbst zu einem kleinen Ballungszentrum geworden, das Zuzüger aus den umliegenden Gemeinden anzieht. Mehr als eine halbe Million Menschen leben hier.
Gleich hinter dem weitläufigen Stadtpark steht der ovale Neubau der Stadtverwaltung. Daneben die Shoppingmall und der breite Boulevard, gesäumt von Alleebäumen und Aprikosenwappen. Malatya hat zwei Universitäten, mehrere Spitäler und sogar Industriezonen, in denen Textilunternehmen ihre Fertigungshallen haben.
Juniordirektor Mevlüt Kilavuz von der Textilherstellerin Mil-May beklagt sich nicht. Der Einbruch der Landeswährung ist für ihn ein Vorteil: Er hilft den Kleiderexporteuren und verbilligt die Produkte im Ausland, sagt er im Direktionsbüro unter dem wachsamen Auge von Republikgründer Atatürk.
Die Regierung in Ankara hofft, auf diese Exporterfolge aufzubauen und verspricht schon die Rückkehr zu einem kräftigen Wachstum. Die Krise lastet dennoch schwer auf der Stadt der Aprikosen. Auch hier macht die starke Teuerung den Menschen zu schaffen, viele klagen über Perspektivlosigkeit.
Enttäuschte AKP-Wählerschaft
Kiraz hilft am Wochenende im Café im grossen Stadtpark als Bedienung aus. Die 22-Jährige studiert Soziologie an der Universität von Malatya. Wo sie das Studium hinführen wird, weiss sie nicht. Es gebe keine Entwicklungsmöglichkeiten in diesem Land, sagt sie. Und alles sei so teuer geworden. Erdogan liess Strassen und Wohnhäuser bauen, aber auch Moscheen. Seine «neue Türkei» sollte fromm und sittsam sein.
Gerade hier im konservativen Osten empfanden viele seinen fulminanten Aufstieg als «historische Revanche» über die kemalistische Staatsmacht. Die Kemalisten stützten sich auf die Armee und beriefen sich auf Kemal Atatürk, den Gründer der modernen Türkei. Dieser hatte vor fast hundert Jahren der Türkei eine strikte Trennung von Religion und Staat verordnet, nach französischem Vorbild.
Aishe demonstrierte in Malatya gegen das kemalistische System, weil sie als Studentin an der Universität das Kopftuch tragen wollte. Die Staatsmacht reagierte mit aller Härte. Erst Erdogan erfüllte ihre Forderung. Sie war begeistert von dem so fromm wirkenden Reformer.
18 Jahre später ist sie bitter enttäuscht. Dass Erdogan einen neuen Präsidentenpalast mit eintausend Zimmern bauen liess, das hätte sie noch hingenommen: «Andere Staatspräsidenten haben auch repräsentative Amtssitze.» Doch wie Erdogan überall seine Gefolgsleute platzierte, wie er Widerspruch zunehmend als Bedrohung verstand und mit Prozessen einzudämmen versuchte, das alarmiert sie.
Er hat einen Überwachungsstaat aufgezogen, wie ihn George Orwell beschrieb.
Inzwischen ist sie überzeugt: «Er hat einen Überwachungsstaat aufgezogen, wie ihn George Orwell beschrieb.» Es gehe dem Präsidenten nicht um religiöse Erneuerung, nur um Machterhalt. Die Angestellte im öffentlichen Dienst will ihren tatsächlichen Namen nicht publiziert sehen, aus Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz. Auch in den Meinungsumfragen fällt eine starke Gruppe von ehemaligen AKP-Wählerinnen und Wählern auf – religiös, konservativ, aber enttäuscht vom Präsidenten.
Die angeblich so moralfeste AKP wird von Skandalen erschüttert, was zusätzlich am Image der Partei nagt. Die Palette der Vorwürfe reicht von Bestechlichkeit und Goldschiebereien im Umfeld des Palasts über Betrug mit Reisevisa bis zur Ministerin, die sich ungeniert selbst öffentliche Aufträge zugeschanzt haben soll und deshalb gehen musste.
«Das Land ist am Boden»
Auf dem Spielplatz im Neubauquartier von Malatya fragt sich eine Mutter, in was für eine Türkei ihr vierjähriger Sohn wohl hineinwachsen wird. Sie stellt sich als Dila vor und auch sie hält nicht zurück mit ihrer Kritik: «Das Land ist am Boden.»
Dennoch nähmen viele Leute die Krise gottergeben hin, sie glaubten den Fernsehkanälen, die regierungsfreundlich berichten. Etliche der Kanäle werden von Baukonzernen kontrolliert, die von öffentlichen Bauaufträgen profitierten.
Orhan auf dem Markt der Kupferschmiede im Stadtzentrum wischt die Kritik weg. Er spricht weiterhin vom «grossen Anführer Erdogan», der von den Neidern schlecht gemacht werde. Wer in diesem Land tatsächlich arbeiten wolle, der könne das auch, sagt Orhan – und er hämmert mit doppeltem Nachdruck auf den Kochkessel, den er gerade fertigt.
Bedeutung der Religion nimmt ab
Ein paar Gassen weiter warten Hakan und Memet Emin auf ihren Bus und auf bessere Zeiten. Sie haben gerade das Gymnasium, das «Lise», beendet und bereiten sich aufs Studium vor: Der eine will Jurist werden, der andere Luftfahrtingenieur. Die beiden 18-Jährigen werden erstmals mitbestimmen können, wenn in der Türkei die nächsten Wahlen stattfinden – womöglich kommendes Jahr, spätestens 2023.
Man redet ja kaum noch über Religion.
Erdogan hat die türkischen Institutionen religiöser gemacht, aber nicht die türkische Gesellschaft. Auch darauf deuten die Umfragen hin. Gerade bei der Jugend gehe die Frömmigkeit zurück. Hakan bestätigt, das sei auch im konservativen Malatya so: «Man redet ja kaum noch über Religion.»
Mehmet Emin bedauert, dass gleichzeitig die «osmanischen Werte» verloren gingen, welche die Türkei aus ihrer «grossen Vergangenheit» geerbt habe. Er verbindet damit die Idee von moralischer Stärke und Ausstrahlungskraft in der Region.
Irgendwie klingt das nach Erdogan, dessen Diskurs nationalistischer wird, je mehr er auf seinen rechtsnationalistischen Koalitionspartner MHP angewiesen ist, um im Parlament überhaupt noch auf eine Mehrheit zu kommen.
Die beiden sind dennoch ratlos. Die Oppositionsparteien überzeugen sie nicht, ebenso wenig die Regierung: «Sie gibt der Jugend keine Perspektive.»