Im Herbst vor dreissig Jahren fiel in Berlin die Mauer. Der Kalte Krieg stand an der Wende. Einer, der dabei eine zentrale Rolle spielte, ist Hans Modrow. Er war von 1989 bis 1990 Ministerpräsident der DDR. Im Gespräch blickt er auf die Grenzen von damals und heute.
SRF News: Heute ist es schwer zu erklären, weshalb es die Mauer überhaupt gab. War sie aus Ihrer Sicht nötig?
Hans Modrow: Der für mich allerwichtigste Fakt bleibt das Gipfeltreffen Anfang Juni 1961 in Wien: Nikita Chruschtschow und der junge Kennedy sitzen sich gegenüber. Und dort ist das eigentliche Thema nur: Führen wir Krieg wegen West-Berlin?
Und der alte Chruschtschow sagt zu dem jungen Kennedy: «Drei Kriege habe ich erlebt. Einen vierten Krieg um Berlin will ich nicht.» Damit einigen sie sich, dass es eine Regelung geben soll – die Mauer. Und was wir kennen, ist das berühmte Bild, wo ein junger Volkspolizist über den Stacheldraht springt.
Die Panzer, die man auch in Bildern hat, sind Ende Oktober 1961 am Checkpoint Charlie, weil dort die Interessen der Amerikaner nicht mehr eingehalten werden. Da standen wir 200 Meter vor einem Weltkrieg. Und das ist für mich das Entscheidende.
Die inneren Probleme der DDR verstehe ich. Und ich weiss auch, wie gross die Republikflucht war in dieser Zeit; dass die DDR ausblutet, wenn die Grenze nicht geschlossen wird. Aber zentral ist eigentlich: Wird sie nicht geschlossen, kann zwischen der Sowjetunion und den USA ein militärischer Konflikt entstehen. Ich glaube, das wird unterschätzt.
Diese Mauer hat viel Leid gebracht – sie hat Familien auseinandergerissen, über hundert Leute wurden bei Fluchtversuchen erschossen. Sie waren schon sehr früh im Zentralkomitee. Haben Sie eine Mitschuld?
Ja. Niemand kann sich freisprechen, aber auch nicht die Nato. Nach der Konferenz in Helsinki 1975 wäre eine Chance gewesen, auch über die Grenzfrage nachzudenken. Niemand hat darüber verhandelt. Man hatte eine kurze Phase der Kooperation, aber nach kurzer Zeit wieder schon wieder Konfrontation.
Es waren ja Mächte, die sich gegenüberstanden; nicht eine Macht, die alleine agierte.
Beide Seiten haben in diesen Fragen eine Verantwortung. Und ich lehne ab, es immer nur einseitig zu betrachten. Denn es waren ja Mächte, die sich gegenüberstanden; nicht eine Macht, die alleine agierte. Es waren immer Fragen der Gegensätzlichkeit der Nato und des Warschauer Vertrages.
Chronik der Berliner Mauer
Die Grenze ist weg. Heute hat man aber das Gefühl, dass zwischen dem Osten und dem Westen von Deutschland immer noch eine mentale Grenze ist. Sehen Sie das auch so?
Ja. Es ist eine Grenze, die Gefühle, die Biografien der Menschen betrifft. Aber es ist ja auch eine soziale Grenze: Junge Leute vergessen oft, dass ein Ostdeutscher 20 Prozent weniger Lohn und Einkommen als ein Westdeutscher hat.
Ostdeutsche werden ein geringeres Einkommen für die Rente berechnet bekommen.
Wenn diese heute 30- bis 40-Jährigen auf Rente gehen, dann werden die Ostdeutschen ein geringeres Einkommen berechnet bekommen. Das sind Probleme, die mich beschäftigen. Als ehemaliger Ministerpräsident der DDR ist noch immer eine Verantwortungsschuld da.
Hätten Sie damals härter verhandeln müssen?
Das ist wohl wahr.
Auch politisch tickt der Osten immer noch anders als der Westen. Die Linke, aber auch die AfD sind dort stärker. Wie erklären Sie sich das?
Der Teil der faschistischen Geschichte darf keine Last sein, die Verantwortungsübernahme einschränkt. Da werden mal die Aktenberge vom Ministerium für Staatssicherheit gewichtiger als die Leichenberge, die die Faschisten hinterlassen haben. Ich will die DDR-Geschichte nicht wegreden. Aber nur das alleine zu betrachten, bringt keinen Ausweg und keine Lösung.
Wir behalten keine Balancen auf unserem Erdteil. Und das ist das Problem.
Und diese Lösung gegen den Neofaschismus, der sich in der BRD, in Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Staaten entwickelt, brauchen wir dringend. Man darf nicht bloss das kleine Kästchen in diesem Europa sehen. Wir haben eine Europäische Union und europäische Entwicklungen. Womit einmal Russland wieder der Feind sein soll. Wir behalten keine Balancen auf unserem Erdteil. Und das, glaube ich, ist das Problem.
Grenzen und Mauern sind ein roter Faden in Ihrer Biografie. Sie wollen auch Nordkorea helfen, sich mit Südkorea wieder zu vereinigen. Wie wollen Sie das anstellen?
Der Krieg, der jetzt käme, wäre ein Kernkrieg. Die Politik des Präsidenten Moon ist darauf gerichtet, dass das Problem der Kernwaffen in den Hintergrund kommt. Man sucht Wege, um wieder Vertrauen und Annährung miteinander zu finden. Und da habe ich durch meine Tätigkeit als Ministerpräsident der DDR in dieser Phase der Vereinigung der beiden deutschen Staaten Erkenntnisse, Erfahrungen, über die ich sprechen kann. Und das ist mein Bemühen.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.