Am 6. August 1945 wirft der US-Bomber «Enola Gay» über der japanischen Stadt Hiroshima eine Atombombe ab. Es ist das erste Mal, dass eine Kernwaffe in einem Krieg eingesetzt wird. Rund 80'000 Menschen sterben sofort. Bis Ende des Jahres verlieren weitere 50'000 Personen ihr Leben. Opfer, die an den Spätfolgen sterben, werden heute noch gezählt.
70 Jahre später nutzt Barack Obama seine letzte Asienreise dazu, als erster US-Präsident die Gedenkstätte in Hiroshima zu besuchen – eine symbolische Geste. Obama will sich nicht für den Atombombenangriff entschuldigen. Der Besuch soll vielmehr als Signal für eine friedlichere Welt ohne Atombomben verstanden werden.
Keine Entschuldigung – kein Problem
Nichtsdestotrotz ist die Symbolik, die hinter Obamas Auftritt steckt, nicht zu unterschätzen. «Obamas Besuch in Hiroshima wird in Japan durchaus begrüsst», sagt der Soziologe Takemitsu Morikawa. In einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo News verlangten lediglich 15 Prozent eine Entschuldigung durch den US-Präsidenten. «Das entspricht meines Erachtens auch der Stimmung der allgemeinen Bevölkerung», so Morikawa.
Gewisse Stimmen würden eine Entschuldigung Obamas gar als negativ für Japan betrachten: Das Land selbst wäre dann gezwungen, sich «offen und ehrlich» mit der eigenen imperialistischen Vergangenheit zu beschäftigen, hält der Soziologe fest.
Auch gemäss David Chiavacci, Professor für Japanologie an der Universität Zürich, würde nur eine Minderheit eine offizielle Entschuldigung begrüssen.
Hiroshima als Zeichen für den Schulterschluss
Politisch gesehen werde der Besuch insbesondere von der progressiveren linken Seite positiv bewertet, sagt Chiavacci. Für diese Seite stehe die Atombombe auch symbolisch für den Anfang Japans als friedvoller Staat und die ökonomische Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit. Konservative Kreise würden dem Auftritt Obamas eine geringere Bedeutung zumessen: «Sie wollen Hiroshima nicht als allzu zentral ansehen», so Chiavacci. Doch auch hier sehe man den Besuch als symbolisches Zeichen für den Schulterschluss mit den USA.
Morikawa hält fest, dass die Konservativen Japans sowie die Wirtschaftselite die Atomangriffe von Hiroshima und Nagasaki lange Zeit tabuisiert haben. Die USA wurden als neuer Verbündeter angesehen. Symbolisch hierfür steht, dass erst 1971 der japanische Kaiser Hirohito Hiroshima besuchte.
Gespaltenes Land?
Der Soziologe sagt, Japan sei in dieser Frage gar ein gespaltenes Land. Verurteilten linke und linksliberale Intellektuelle die Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki doch als Kriegsverbrechen. «Diese Leute meinen, dass die japanische Regierung zugunsten des Militärbündnisses mit den USA die eigene Bevölkerung überbelastet und ziehen manchmal die Schlussfolgerung, dass die Besatzungszeit noch nicht zu Ende gegangen sei.» Noch immer betreiben die USA auf der Insel Okinawa die grösste Militärbasis in Ostasien.
Bleibt die Frage, ob es heute noch negative Ressentiments gegenüber dem einstigen Kriegsfeind gibt. Chiavacci macht negative Stimmen lediglich bei einer kleinen, rechten Minderheit aus. Teilweise seien auch Rassismus-Vorwürfe zu hören: «Es gibt Stimmen, die sagen, die USA hätten niemals eine Atombombe über Deutschland abgeworfen.»
Die grosse Mehrheit identifiziere sich viel eher mit den USA der Nachkriegszeit als ökonomisches Vorbild. «Man ist stolz, dass man es geschafft hat, mit den USA auf Augenhöhe zu kommen», so der Japanologe.