«Mitten im Krieg rief mich ein Unbekannter an. Der Anrufer sagte, er sei vom israelischen Militär», erzählt Mohammed Mughaisib, ein einheimischer Arzt und Koordinator für die medizinische Hilfe von Médecins sans Frontières (MSF) in Gaza.
Wir werden in Ihrem Quartier bombardieren, weil sich ein Feind dort versteckt.
«Er wusste, wer ich war, und sagte: Doktor, fordern Sie Ihre Nachbarn auf, ihre Häuser zu verlassen! Wir werden in ihrem Quartier bombardieren, weil sich ein Feind dort versteckt. Bringen Sie Ihre Familie in Sicherheit und folgen Sie mir!» Der Mann am Telefon habe ihm genauste Anweisungen gegeben, erzählt der Arzt aus Gaza.
Mughaisib erzählt weiter: «Der Mann sagte: Sehen Sie das weisse Auto auf der Strasse? Gehen Sie daran vorbei, zum schwarzen Auto.» Der Anrufer habe ihn wahrscheinlich mithilfe einer Drohne beobachtet, vermutet Mughaisib.
Treppenhaus statt Luftschutzkeller
Als der Arzt den Nachbarn vor der bevorstehenden Bombardierung gewarnt habe, habe dieser zuerst gedacht, es handle sich um einen Witz. Doch: «Ich erklärte ihm, dass ich den israelischen Geheimdienst am Draht hätte und alle evakuiert werden müssen», so der Arzt.
Die Bombardierung war schrecklich. Es regnete Metallteile und Steine.
Der Anrufer habe dann von ihm verlangt, weiterzugehen, aber Mughaisib war die Sache unheimlich, er wollte zurück zu seiner Familie. Sein Handy habe er einem Sicherheitsbeamten auf der Strasse in die Hand gedrückt und sei zurück in seine Wohnung geeilt. Mit seiner Familie suchte er Schutz im Treppenhaus. Luftschutzkeller haben die Gebäude in Gaza nicht.
Anderthalb Stunden nach dem Anruf hätten die Israelis dann bombardiert. «Der Anrufer hatte recht mit seiner Warnung. Die Bombardierung war schrecklich. Es regnete Metallteile und Steine. Unser Haus sprang rauf und runter. Die Gesichter meiner Kinder waren gelb vor Schreck, ich fühlte mich hilflos», so der Arzt.
Israelis hatten Hauptstrassen im Visier
MSF konnte während des elftägigen Krieges vom Mai 2021 seine Kliniken nicht öffnen, weil die Israelis praktisch alle Hauptstrassen bombardiert hatten. Den Verletzten nicht helfen zu können, sei für ihn das Schwierigste gewesen, sagt der Arzt Mughaisib.
In den elf Tagen Krieg sind wir alle zehn Jahre älter geworden.
Erstmals in all den Kriegen der letzten Jahre habe er seine Aufgabe nicht erfüllen können. «Es gab keinen Zugang zu den Kliniken, und keine Sicherheitsgarantie für unser Personal.» Die Bombardierungen und die eigene Ohnmacht hätten ihm stark zugesetzt.
«In den elf Tagen Krieg sind wir alle zehn Jahre älter geworden. Ich sehe es an ihren Gesichtern: Sie sind müde, und an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt.»
Beschädigte Gebäude führen zu Folge-Verletzungen
Die Präzisionsschläge auf einzelne Gebäude haben zwar weniger Menschen in Gaza getötet. Trotzdem sind die Schäden an anderen Gebäuden in den engen und dichtbevölkerten Wohnquartieren beträchtlich, was auch die Verletzungsgefahr erhöht, wenn die Menschen weiter in den beschädigten Häuser leben.
So behandelte MSF allein im letzten Jahr über 5500 Menschen mit Brandwunden. Eine miserable Infrastruktur in beschädigten, unsicheren und überfüllten Wohnungen führt zu Unfällen. Zudem leidet die Bevölkerung auch psychisch: Eine Drohne am Himmel löst inzwischen schon Angst vor einem nächsten Krieg aus.