Vor der Domkirche im Zentrum der norwegischen Hauptstadt Oslo herrscht an diesem warmen Sommertag viel Betrieb. Passanten lauschen einem Strassenmusiker, Jugendliche auf Elektro-Trottinetts rauschen am Mahnmal neben der Kirche vorbei.
Dieses erinnert an den 22. Juli 2011: Vor genau zehn Jahren verübte ein damals 32-jähriger Rechtsextremist innerhalb weniger Stunden die schwersten Terroranschläge auf norwegischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg.
Damals war die Betroffenheit enorm. Tausende legten vor der Domkirche eine Rose nieder. Daraus entwickelten Künstlerinnen und Künstler die Idee eines Mahnmals aus eisernen Rosen. Dieses erinnert an die Bluttat, aber auch daran, wie Norwegen nach den Anschlägen schnell und beherzt reagierte.
«Wir sind ein kleines Land, aber ein stolzes Volk»
Vor über 200'000 versammelten Trauernden sagte der damalige norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg: «Wir sind ein kleines Land, aber ein stolzes Volk. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.»
Wir hatten den klaren Auftrag, alles daran zu setzen, dass solche Anschläge mit derart gravierenden Folgen nie mehr möglich sein werden.
Mit diesen Worten gelang es Stoltenberg, auf den enormen Schock mit einer positiven Botschaft zu reagieren. Dies schuf die Grundlage dafür, dass Norwegen zunächst einen vernünftigen Umgang mit dem Täter und den Folgen von dessen Handlung fand.
«Wir hatten den klaren Auftrag, alles daranzusetzen, dass solche Anschläge mit derart gravierenden Folgen nie mehr möglich sein werden», betont Jens Fröhlich Holte, Staatssekretär im norwegischen Aussenministerium. Er gehört der seit 2013 regierenden bürgerlichen Koalition von Ministerpräsidentin Erna Solberg an.
Attentäter aus dem Umfeld einer Regierungspartei
Zeitweise war auch die «nationale Fortschrittspartei» Teil dieser Regierung. Im Umfeld genau dieser Partei hatte sich der Attentäter des 22. Juli 2011 radikalisiert. In den ersten Jahren nach den Attentaten konzentrierte sich Norwegen auf das Gerichtsverfahren gegen den Attentäter.
Dieser Prozess nahm mit allen Berufungen fast sieben Jahre in Anspruch. Gleichzeitig investierte Norwegen massiv in die Sicherheit. Zum Zeitpunkt der Anschläge war in der zuständigen Alarmzentrale der norwegischen Polizei gerade einmal ein Beamter im Dienst.
Der Terrorist kämpfte gegen zwei Entwicklungen: unsere offene demokratische Gesellschaft und die konsequente Gleichberechtigung der Geschlechter.
In einem wichtigen Punkt aber ist Norwegen kaum weiterkommen – nämlich beim Umgang mit extremen Ideologien, wie sie der Attentäter vertrat, sagt Fröhlich Holte. «Wir müssen uns eingestehen, dass wir mit dem gewaltbereiten Rechtsextremismus ein Problem haben», betont der konservative Politiker.
Auch die sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete Anniken Huitfeldt unterstreicht die politische Bedeutung der Anschläge: «Der Terrorist kämpfte gegen zwei Entwicklungen: unsere offene demokratische Gesellschaft und die konsequente Gleichberechtigung der Geschlechter», sagt sie, die unter Ministerpräsident Stoltenberg selbst Mitglied mehrerer Regierungen war.
Und auch Huitfeldt sagt: in Norwegen brauche es eine breite öffentliche Diskussion über die ideologischen Hintergründe der Bluttat. Denn die rassistischen, antidemokratischen Motive des Attentäters würden bis heute in sozialen Medien wiederholt und verbreitet.
Die Grenzen der Meinungsfreiheit
Wenige Monate vor der Parlamentswahl vom September haben sich die bürgerliche Regierung und die rotgrüne Opposition darauf geeinigt, offene Fragen im Umgang mit der Meinungsfreiheit grundlegend zu diskutieren.
Die renommierte Publizistin Kjersti Løken Stavrum leitet die dafür eingesetzte Kommission. «Wie kann man die Meinungsfreiheit und die Verantwortung für seine Meinung in Einklang bringen?», fragt sie beim Gespräch vor dem Osloer Hauptbahnhof. Gleich dahinter tun sich immer noch grosse Baugruben im damals verwüsteten Regierungsquartier auf.
Es gehe ihr darum, zu verhindern, dass das universale Recht auf Meinungsfreiheit derart verabsolutiert werde, dass Gewaltaufrufe und Konspirationstheorien unwidersprochen blieben, so Stavrum. Deshalb überlegt sich die Kommission nun Reformen, die darauf zielen, nicht nur professionelle Meinungsmacher, wie Publizisten und Verlegerinnen, sondern auch individuelle Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht zu nehmen. Auch sie sollen sich verantworten müssen, wenn sie zu Gewalt aufrufen oder wilde Verschwörungstheorien verbreiten.
Es wird deutlich: Auch zehn Jahre nach den Anschlägen werden die Folgen das nordische Land noch lange weiterbeschäftigen.