Die Türkei gehört mit dem Beitritt 1952 zu den ältesten Mitgliedern des westlichen Verteidigungsbündnisses Nato und unterhält nach den USA die zweitgrösste Streitmacht, gemessen an der Zahl aktiver Soldatinnen und Soldaten. Gleichzeitig befindet sich Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einem für die Bündnispartner irritierendem Schlingerkurs.
Zwischen Russland und der Nato
Denn Ankara kauft von Moskau S-400-Boden-Luft-Raketen, welche als russisches Waffensystem sicherheitsrelevante Informationen des Nato-Verteidigungssystems ausspähen könnten. Gleichzeitig überlässt die Türkei den USA im Rahmen des Bündnisabkommens uneingeschränkte Befehlsherrschaft über einsatzfähige Atomsprengköpfe auf dem Nato-Stützpunkt Incirlik im Süden des Landes.
Die Türkei verurteilt einerseits die Einverleibung der Krim-Halbinsel und die Invasion der Ukraine durch die Russen, beliefert Kiew sogar militärisch mit eigenen Bayraktar-Drohnen für die ukrainische Landesverteidigung.
Ankara beteiligt sich aber nur zögerlich an den Wirtschaftssanktionen gegen die Machthaber in Moskau. Denn lange Zeit dienten die Häfen am Bosporus mit ihrem Zugang zum Schwarzen Meer als Warendrehscheibe für Güter, die aufgrund des Embargos nur über verschleierte Transaktionen und Zwischenhändler nach Russland ausgeführt werden konnten. Die Türkei konnte durch diesen Trick die Ausfuhr von Konsum- und Industriegütern nach Russland verdoppeln.
Der Friedensstifter
Und Ankara handelt mit Moskau und Kiew einen «Getreide-Deal» aus, der trotz der Kriegshandlungen die Ausfuhr von Getreides aus der Ukraine in den Nahen Osten, nach Afrika und Asien ermöglicht. Präsident Erdogan erhofft sich damit gute Karten für mögliche Waffenstillstandsgespräche. Die Türkei als Friedensstifter – das wäre der krönende Abschluss der türkischen Doktrin der «offenen Türen».
Innenpolitisch versucht Recep Tayyip Erdogan so zu punkten. Als international anerkannter Schlichter und Verhandler will der Präsident die Unzulänglichkeiten im eigenen Land kaschieren – erst wegen des Währungsverfalls und der Inflation, dann durch das verheerende Erdbeben und das zögerliche Eingreifen von staatlicher Katastrophenbehörde und Militär.
Dabei agiert der Präsident nicht nur aus der Not. Denn Russland spült dank der gestiegenen bilateralen Handelsbeziehungen viel Geld in die klammen Kassen Ankaras. Mit russischer Technologie wird auch das erste Atomkraftwerk der Türkei gebaut. Und ohne das russische Einverständnis könnte die Regierung in Ankara auch nicht die riskante Besatzungs- und Interventionspolitik gegen die Kurden im nördlichen Syrien fahren. Recep Tayyip Erdogan ist quasi gezwungen, weiterhin auf gute Beziehungen mit Putin zu setzen.
Der Balanceakt geht weiter
Wird sich am türkischen Schlingerkurs bei einem Machtwechsel nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Mitte Mai etwas ändern? Die prorussische Position findet bei vielen in der Türkei Anerkennung, wie auch eine selbstbewusste Haltung als Nato-Partner und Nachbar der Europäischen Union.
Neue politische Mehrheiten aber könnten den Weg für den Nato-Eintritt Schwedens schneller frei machen. Auch die andauernden Verbalattacken gegen den Nachbarn Griechenland könnten aufhören, wie auch die Drohung, sich weiter mit russischen Waffensystemen einzudecken. Aber eines ist sicher: Die Türkei wird weiterhin den Spagat versuchen und als Mitglied der Nato die Nähe zu Russland suchen. Vielleicht zum Nutzen aller Beteiligten.