Die Türkei steht nicht nur wegen der Coronakrise unter Druck. Die Inflationsrate hat zweistellige Prozentwerte erreicht und sorgt damit für einen Abwertungsdruck auf die Landeswährung Lira. Auch das Wegschmelzen der Währungsreserven hat die Talfahrt beschleunigt.
Präsident Recep Tayyip Erdogan rief deshalb eine neue Wachstumsstrategie aus und will sein Land stärker für ausländische Investoren öffnen. Es ist nicht sein erster Versuch eines Befreiungsschlags. Doch diesmal will er nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Justiz und die Demokratie reformieren.
Erfolgsmeldungen ziehen nicht mehr
Ob ihm das gelingt, sieht Thomas Seibert, seit über 20 Jahren Journalist in Istanbul, kritisch. «Erdogan wird bestimmt nicht über Nacht zum lupenreinen Demokraten.» Was die Wirtschaftspolitik seines Landes angehe, seien seine Ankündigungen zwar glaubwürdig. «Aber dass sich sehr viel ändert in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaat, ist nicht zu erwarten.»
Dass Erdogan gerade jetzt Reformen ankündige, habe damit zu tun, dass ihn die Wirtschaftslage dazu zwinge. «In den letzten Jahren haben ausländische Investoren rund 120 Milliarden Dollar aus der Türkei abgezogen. Die Arbeitslosigkeit schiesst nach oben, die Inflation ist hoch.» Das sei lange Zeit überdeckt worden durch Erfolgsmeldungen. «Besonders von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, bis letzte Woche Finanzminister.»
Die Probleme liessen sich nun aber nicht mehr unter dem Deckel halten, meint Seibert. «Die Zwänge sind zu gross geworden.» Am Donnerstag trifft sich die Zentralbank und entscheidet über eine an sich längst nötige Anhebung der Leitzinsen. «Erdogan hat sich bisher immer dagegen ausgesprochen. Nun wird sich zeigen, ob sein Reformversprechen so weit geht, dass er eine Zinsanhebung zulässt, weil es nicht mehr anders geht.»
Das Ziel von Erdogans Reformen sei, die Türkei für ausländische Investoren wieder attraktiver zu machen. «Dazu gehört mehr Berechenbarkeit in der Politik, nicht mehr diese Sprunghaftigkeit, die wir in den letzten Jahren gesehen haben. Und dazu gehört auch eine gewisse Berechenbarkeit in der Handelsgerichtsbarkeit», sagt Seibert. Diese soll nun reformiert werden.
«Die Leute, die Erdogan vergangene Woche in entscheidenden Ämtern wie jenen des Zentralbankchefs und des Finanzministers installiert hat, sind Leute, die vor allen Dingen Verlässlichkeit ausstrahlen sollen.» Dies habe sich bereits ausgezahlt. «Die Talfahrt der Lira ist zumindest fürs Erste gestoppt worden.» Wie lange dieser Effekt anhält, weiss allerdings niemand.
Keine unabhängige Zentralbank
Beobachter sagen, wenn man mehr Stabilität in der Wirtschaft wolle, dann müsste Erdogan auch einen Teil seiner Macht abgeben. Doch genau das sei das Problem, sagt Seibert: «Erdogan möchte diese grundlegenden Reformen im Grunde vermeiden, weil sie seine eigene Macht begrenzen würden.»
Eine unabhängige Zentralbank beispielsweise wäre eine wichtige Voraussetzung für das Vertrauen der Investoren. «Erdogan lässt aber diese Unabhängigkeit nicht zu», so der Journalist. «Er hat bestimmte Vorstellungen vom Niveau der Leitzinsen. Er wird da auch in Zukunft reinregieren.»
Erdogan möchte also seine Macht erhalten, und trotzdem als Reformer dastehen, bilanziert Seibert. «Das mag kurzfristig funktionieren. Aber daran, ob das mittel- und langfristig funktioniert, gibt es erhebliche Zweifel.»