In einem kleinen, versteckten Buchladen mitten in der geschäftigen Metropole Hongkong sitzt ein schmächtiger Mann an einem runden Tisch und blättert in zwei Büchern. Auf den ersten Blick sehen diese gleich aus. Ko vergleicht eine alte und eine neue Ausgabe seines Lehrmittels. «Mit der alten Version diskutierten wir mit den Schülern über Themen wie Gewaltenteilung, Pressefreiheit und zivilen Ungehorsam. Und auch über die Mahnwache am 4. Juni konnten wir diskutieren.»
Ko beugt sich zum anderen Buch, der Neuauflage des Lehrmittels. Hier fehlen alle diese Themen. «In der neuen Version sprechen wir vor allem über die Rückgabe Hongkongs an China», führt der Lehrer aus. «Das Buch lehrt uns, dass wir die totale Kontrolle Chinas akzeptieren sollten. Und im Unterricht können wir nur über technologische, wirtschaftliche oder medizinische Errungenschaften diskutieren.»
Es sei nicht nur das Lehrbuch, das sich geändert habe, erklärt Lehrer Ko, der Teenager im Alter von 15 bis 18 Jahren in Staats- und Gesellschaftslehre unterrichtet – respektive unterrichtet hat. Denn sein Fach wurde 2020 abgeschafft und durch das Fach «Zivile und soziale Entwicklung» ersetzt. Geändert habe dabei nicht nur, was unterrichtet wird, sondern auch, wie. Früher habe das Fach die Schüler angeregt, unabhängig zu denken, sagt Ko. «Teil des Unterrichts war, dass sie Themen selbstständig recherchierten. Im neuen Kurs gibt es das nicht mehr.»
Das letzte bisschen Freiraum nutzen
Der Austausch zwischen Lehrern und Schülern wurde reduziert und der Raum für Diskussionen im Schulzimmer insgesamt deutlich eingeschränkt. Früher habe er mit seinen Schülerinnen und Schülern auch über in China sensible Themen wie Armut, Korruption und Menschenrechte diskutiert. Diese Themen finden im Schulzimmer nicht mehr statt.
Manche seiner Kolleginnen und Kollegen versuchten zwar, die verbleibenden Freiräume zu nutzen. Im Unterricht erklärten sie zum Beispiel politische Systeme anderer Staaten. Das sei allerdings heikel. Denn die Bildungsbehörde sende regelmässig Instruktoren in die Schulen, um zu überprüfen, welcher Stoff wie vermittelt wird. Viele Lehrpersonen hätten Angst, sie würden hart bestraft, falls sie nicht den offiziellen Vorgaben folgten.
«Ich überlege mir, die Stadt zu verlassen»
Kos Fazit zu dieser Entwicklung ist düster. «Als Lehrer finde ich es eine grosse Schande. In der Vergangenheit konnten wir den Schülern eine Auseinandersetzung mit Gesellschaftskonzepten und aktuellen Entwicklungen ermöglichen.» Es habe viele Diskussionen gegeben, dies habe den Schülern geholfen, die Stadt Hongkong zu verstehen. «Kurz: Es hat ihnen geholfen, Bürgerinnen und Bürger zu sein.»
Zum heutigen Unterricht sagt er entsprechend frustriert: «Ich denke, der Unterricht heute ist mehr Propaganda, nicht Bildung. Das geht für mich nicht auf.» Lehrer Ko schliesst die Lehrmittel. Auf den Umschlägen ist die Skyline von Hongkong abgebildet. Die Bücher verschwinden in einer schwarzen Tasche.
Beim Abschied sagt er: «Ich überlege mir, die Stadt zu verlassen.» Er wäre nicht der Erste. 6500 Lehrerinnen und Lehrer haben nach dem vergangenen Schuljahr aufgehört in Hongkong. Das sind rund doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die meisten davon waren noch nicht im Rentenalter, genauso wie Ko. Er hätte noch ein paar Jahrzehnte als Lehrer vor sich.