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Kamele, Dromedare und die Polarisierung der Gesellschaft
Aus Echo der Zeit vom 27.03.2022. Bild: Keystone
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Empirische Prüfung Wie gespalten ist die Gesellschaft wirklich?

Immer wieder ist die Rede von der gespaltenen Gesellschaft. Von zwei Gesinnungslagern, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Soziologe Steffen Mau hat den empirischen Gehalt dieser Polarisierungsthese überprüft und äussert sich dazu, ob die Daten diese bestätigen.

Steffen Mau

Professor für Makrosoziologie

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Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Ungleichheitsforschung, vergleichende Wohlfahrtstaatenforschung, politische Soziologie, Europäisierung und Transnationalisierung.

SRF News: Hält dieses Bild einer Gesellschaft, die sich immer stärker polarisiert, einer wissenschaftlichen Überprüfung stand?

Steffen Mau: In vielen Bereichen, in denen man nach dieser Polarisierungs-These grösser werdende Unterschiede zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sehen sollte, findet man dazu wenig: Bei der Einstellung zur Homosexualität oder Transpersonen, zu Fragen von Klimaschutz oder Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Auch wenn man Daten anschaut, die über einen langen Zeitraum auch die Meinungsbilder erfassen, findet man das überhaupt nicht, im Gegenteil, man findet eine sehr, sehr grosse Stabilität – übrigens auch bei der Einstellung zur Migration.

Es gibt da immer einen Teil der Bevölkerung, der skeptisch ist, und dann gibt es einen grossen Teil, der in der Mitte ist und dann gibt es einige, die sind sehr migrationsfreundlich. So sieht das bei vielen anderen Dingen auch aus. Darüber hinaus muss man auch noch sagen, dass es eine sehr starke Liberalisierung fast aller westlicher Gesellschaften gibt. Das findet man auch in den USA. Es ist nicht so, dass die einen sozusagen rückwärtsgewandter, chauvinistischer und intoleranter werden und die anderen genau das Gegenteil. Sondern es bewegen sich eigentlich alle in die gleiche Richtung und bei manchen Bereichen werden die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen sogar kleiner.

Also greift diese Zwei-Welten-Theorie eigentlich viel zu kurz?

Ja. Ich verwende das Bild vom Dromedar oder vom Kamel. Das ist wahrscheinlich zoologisch nicht vollständig richtig, weil das Dromedar eben auch eine Kamel-Art ist. Aber die Vorstellung, dass so eine Gesellschaft entweder zwei Höcker hat, zwei unterschiedliche Gruppen und dazwischen ist ein Tal oder eine grosse Verteilung, wie eben der Rücken eines Dromedars. Da würde ich sagen, da stimmt das Letztere.

Wir haben so etwas wie eine Normalverteilung von Einstellungen und wir sehen nicht, dass da grössere Differenzen oder Disparitäten auftauchen.
Autor: Steffen Mau Professor für Makrosoziologie

Wir haben so etwas wie eine Normalverteilung von Einstellungen und wir sehen nicht, dass da grössere Differenzen oder Disparitäten auftauchen. Ganz im Gegenteil, die meisten Leute befinden sich irgendwo in der Mitte. Sie sind weder Kosmopoliten noch Traditionalisten. Und das ist erst mal eine interessante Erkenntnis, weil man dann ein bisschen auf die gesellschaftlichen Konflikte schauen kann und feststellt: Ja, es ist ganz so, aber wir haben trotzdem öffentliche Konflikte. Es ist nicht so, dass wir in einer konfliktfreien Gesellschaft leben. Das darf man daraus jetzt nicht schliessen.

Aber man kann daraus schliessen, dass es eben nicht so klar ist mit diesen beiden Lagern. Also quasi wer für Umweltschutz ist, kann dennoch auch gegen das Gendersternchen sein?

Genau. Das ist sozusagen das, was ich Syndrom-Annahme nenne: dass im Prinzip ganz viele Einstellungen zu einzelnen Themenbereichen irgendwie miteinander zusammenhängen. Also diejenigen, die einen SUV fahren, die sind auch für den Fleischkonsum, die sind auch gegen das Gendersternchen und vielleicht auch migrationsskeptisch.

Die grösste Gruppe der Leute ist nicht so einfach dem einen oder anderen Lager zuzuschlagen.
Autor: Steffen Mau Professor für Makrosoziologie

Und diejenigen, die jetzt kosmopolitisch leben, sind eben auch dafür, dass man stärker auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau achtet, dass man vielleicht vegan lebt. So einfach ist das nicht, wir haben eine viel grössere Varianz, viel mehr gemischte Gruppen. Es gibt eben auch SUV-Fahrer, die heute zum Beispiel sehr solidarisch mit Geflüchteten aus der Ukraine sind oder die sich auch vegan ernähren. Also die grösste Gruppe der Leute ist nicht so einfach dem einen oder anderen Lager zuzuschlagen.

Warum hält sich dann dieses Bild des Kamels so hartnäckig?

Ja, warum hält sich das? Das ist wirklich die Frage. Wenn man die Zeitung aufschlägt oder sich in den sozialen Medien bewegt, dann hat man oft das Gefühl, das ist unglaublich konfrontativ. Und ich würde sagen, man muss wirklich zwischen dem Meinungsbild der Bevölkerung und der veröffentlichten Meinung oder auch Meinungen und Polarisierung in den sozialen Medien unterscheiden. Und wenn man das macht und vielleicht übereinander legt, dann sieht man, dass das eben nicht vollständig deckungsgleich ist, sondern dass die Leute in der Regel ja viel moderater sind, zum Teil auch sehr liberal sind bei vielen Haltungen.

Aber in den öffentlichen Diskursen hat man eben das Gefühl, dass es unglaublich stark polarisiert, und sich da unversöhnliche Lager gegenüberstehen. Und das ist eben etwas, was auch durch die Medien und die Politik selbst angespitzt wird. Das ist nichts, was sozusagen in der Bevölkerung schon drinsteckt, sondern das sind dann wirklich diese Übertragungen und auch die Verstärkungen, die in der öffentlichen Kommunikation stattfinden.

Also die Politik und die Medien profitieren von diesem Bild des Kamels sozusagen.

Ja, natürlich. Zur Mobilisierung der eigenen Lager braucht man natürlich auch immer Freund-Feind-Bilder, man braucht auch das Gefühl, dass es eine Bezugsgruppe gibt und die werden darüber mobilisiert. Man kann auch im Vergleich der europäischen Länder oder auch in der OECD-Welt sehen. Überall dort, wo es politischen Parteien oder politischen Unternehmern gelingt, zu so etwas wie Polarisierungs-Unternehmern zu werden, also selber sehr stark auf solche Konfrontation zu setzen, zum Beispiel das Gendersternchen zum Gesinnungskampf zu erklären und alles zu mobilisieren, um dafür oder dagegen zu sein, verändern sich teilweise auch die Einstellungen der Bevölkerung. Die wären dann ein bisschen disparater, das geht ein bisschen stärker auseinander.

Das heisst, der Wirkungszusammenhang, der hier erkennbar wird, ist eben nicht von der Sozialstruktur oder von der Bevölkerung hin in die politische Sphäre, sondern umgedreht aus der politischen Sphäre, aus der Sphäre der öffentlichen Kommunikation, in die Bevölkerung hinein. Und von daher liegt im Prinzip der Ball und auch die Verantwortung in gewisser Weise bei den politischen Akteuren, viel weniger bei der Bevölkerung.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 27.02.2022, 18 Uhr ; 

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