Seitdem die Türkei begonnen hat, kurdische Milizen im nordsyrischen Afrin anzugreifen, herrschen tiefe Gräben zwischen den USA und der Türkei. Denn die kurdischen Milizen sind Verbündete der USA im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Nun besucht US-Aussenminister Rex Tillerson heute Ankara und trifft den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Doch die Interessenskonflikte werden nicht leicht zu lösen sein, sagt Journalistin Susanne Güsten in Istanbul.
SRF News: Der türkische Staatspräsident Erdogan hat mit einer «osmanischen Ohrfeige» gedroht, sollten die USA die Türkei daran hindern, gegen die Kurden in Syrien vorzugehen. Ist es da nicht höchste Zeit, miteinander zu reden?
Susanne Güsten: Ja, in der Tat, es ist allerhöchste Zeit. Denn die Situation im Süden der Türkei und in Syrien ist brenzlig. Dort könnte tatsächlich sehr bald etwas explodieren.
Die Türken haben auch damit gedroht, gegen die USA vorzugehen und gar auf US-Soldaten zu schiessen, wenn sie sich weiterhin hinter die Kurdenmiliz stellen. Ist das ernst gemeint?
Ja, so unglaublich sich das anhört. Man hätte sich das ja kaum vorstellen können, dass zwei Nato-Partner aufeinander schiessen. Aber es ist durchaus ernst zunehmen. Viele – bis in die türkische Regierung hinein – sehen die USA inzwischen mehr als Feind denn als Partner.
Man hätte sich das ja kaum vorstellen können, dass zwei Nato-Partner aufeinander schiessen.
Die Stimmung kocht. Dazu kommt, dass in der Türkei Vorwahlkampf ist. Nationalistische Parolen verfangen sehr gut und schaukeln die Stimmung weiter hoch. Im Moment ist die Aussenpolitik in den USA eher schwach. Das Pentagon kann teilweise eigene Aussenpolitik machen, nach seinen militärischen Interessen, und das macht die Situation noch weiter gefährlich.
Auf der anderen Seite finden die USA, die Türkei lenke mit dieser Offensive gegen die Kurden vom eigentlichen Ziel ab, nämlich gemeinsam die Terrormiliz IS zu besiegen. Sieht man das Problem mit dem IS in der Türkei anders?
Es gibt einen ganz fundamentalen Zielkonflikt zwischen den USA und der Türkei. Die USA kämpfen vor allem gegen den IS. Die Türkei hat vor allem Angst vor der kurdischen Miliz YPG, mit der die Amerikaner in Syrien zusammenarbeiten. Die Türken befürchten, dass die Kurden an der türkischen Grenze ein Autonomiegebiet errichten. Diese kurdische Miliz arbeitet mit der PKK, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei, zusammen. Die PKK bekämpft seit Jahren die Türkei von innen. Man befürchtet, dass der Konflikt aufs Innere der Türkei übergreifen könnte.
Kann man sagen, dass die Türkei den IS von Anfang an nur mit einigem Widerwillen bekämpft hat und im Fokus immer das Feindbild Nummer 1, also die Kurden, standen?
Ja, aber es sind nicht die Kurden an sich. Die YPG ist mit der PKK verbündet. Die PKK ist schon eine spezielle kurdische Organisation.
In dem Masse, in dem der IS geschwächt wird, wird die Kurdenmiliz gestärkt, und das ist das Problem der Türkei.
Aber natürlich hat die Türkei auch mit dem IS ein Problem. Es hat in der Türkei mehrere grosse Anschläge mit vielen Opfern gegeben. Aber zugleich und noch mehr haben die Türken Angst vor der YPG. In dem Masse, in dem der IS geschwächt wird, wird die Kurdenmiliz gestärkt und das ist das Problem der Türkei. Sie denken, sie würden von der Miliz angegriffen.
Wie sieht das türkische Volk diese Sache?
Das türkische Volk steht hier ganz klar hinter der Regierung. Auch Leute, die sonst Staatspräsident Erdogan nicht mögen oder sogar ablehnen, sind in diesem Fall der Meinung, dass das Vorgehen der türkischen Armee in Syrien richtig ist.
In Umfragen befürworten 80 Prozent der Bevölkerung die türkische Offensive.
Denn in der Türkei kennt man das Problem mit der PKK seit Jahrzehnten und hat grosse Angst vor der YPG. In Umfragen befürworten 80 Prozent der Bevölkerung diese türkische Offensive.
Gibt es eine Möglichkeit, dass allein mit dem Besuch des US-Aussenministers der Konflikt gelöst wird?
Es ist unwahrscheinlich, dass das Problem mit einem einzigen Gespräch zu lösen ist. Es geht nicht um irgendeinen Kompromiss oder um die Wahrung des Gesichts. Es ist nichts, was man in einem Tag aushandeln könnte. Eines der Länder muss grundsätzlich den Kurs ändern.
Das Gespräch führte Roger Aebli.