Der türkische Rote Halbmond sieht sich mit gravierenden Anschuldigungen konfrontiert. Die grösste Hilfsorganisation des Landes soll Zelte an Erdbebenopfer verkauft und damit mehr als zwei Millionen Euro eingenommen haben, wie die Zeitung «Cumhuriyet» am Wochenende berichtete. Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul, über die Reaktionen darauf und dazu, welche Rolle die anstehenden Wahlen dabei spielen.
SRF News: Wie fallen die Reaktionen auf die Berichte aus?
Thomas Seibert: Es ist ein grosses Thema und wird rege diskutiert. Seitens des Roten Halbmondes heisst es, alles sei völlig normal abgelaufen – Zelte seien zum Selbstkostenpreis an private Hilfsorganisationen weitergegeben worden. Die Opposition hingegen wirft den staatlichen Stellen vor, in der Stunde der grössten Katastrophe in der Geschichte der Türkei auch noch Geld verdienen zu wollen.
Auch sonst gibt es viel Kritik an der türkischen Regierung, was den Umgang mit der Erdbebenkatastrophe angeht. Wie passen die Berichte um den Roten Halbmond in dieses Bild?
Es gibt in der Türkei derzeit zwei verschiedene Realitäten – je nachdem, auf welcher Seite man politisch steht. Die Opposition sagt, es sei viel schiefgelaufen. Pfusch am Bau sei von der Regierung jahrelang hingenommen worden. Unmittelbar nach den schweren Beben vom 6. Februar sei lange Zeit nichts passiert, die Institutionen hätten nicht funktioniert.
Erdogan versucht, Kritik an seiner Regierung durch die Demonstration von Tatkraft aufzufangen.
Die Opposition macht dafür das Präsidialsystem von Präsident Erdogan verantwortlich, in dem eben alles auf den Präsidenten zugeschnitten ist. Alle hätten auf die Befehle aus Ankara gewartet, die aber nicht gekommen seien. Die andere Realität besteht darin, dass die Regierung betont, alles zu unternehmen, was möglich sei. Denn auf ein solches Beben hätte sich kein Land der Welt vorbereiten können.
Was sagt Präsident Erdogan zu den Vorwürfen an den Roten Halbmond?
Das passt für ihn in dieses Bild. Er sagt, die Kritiker würden die Hilfsbemühungen schlechtreden. Im Grunde genommen erklärte er sie zu Landesverrätern, die in einer schweren Stunde ihr politisches Süppchen kochten.
Im Moment tobt die Schlacht um die Meinungsführerschaft.
Aus Sicht der Regierung läuft alles super. Noch im März soll demnach mit der Wiedererrichtung neuer Häuser begonnen werden. Erdogan versucht also, Kritik an seiner Regierung durch die Demonstration von Tatkraft aufzufangen.
In der Türkei sollen bald Wahlen stattfinden, voraussichtlich noch im Frühjahr. Wie beeinflussen die Diskussionen rund um die Erdbebenkatastrophe diese Wahlen?
Im Moment tobt die Schlacht um die Meinungsführerschaft. Es geht darum, was bei den Wählerinnen und Wählern eher hängenbleiben wird. Der Eindruck, den die Opposition zu verbreiten versucht, dass viel im Argen liege? Dass es im Grunde genommen eine Systemfrage gewesen sei, dass so viele Leute sterben mussten? Dass das Präsidialsystem abgeschafft gehört? Oder gelingt es Erdogan, die Türken davon zu überzeugen, dass nur er die Erdbebenregion schnell wieder aufbauen kann? Das ist im Wahlkampf die entscheidende Frage.
Mittlerweile sind die meisten internationalen Rettungsteams abgereist. Kann die Türkei die Erdbebenhilfe alleine stemmen?
Langfristig bestimmt nicht. Schätzungen beziffern die Schäden durch die Erdbebenkatastrophe auf 80 bis 90 Milliarden Dollar. Da glaube ich, dass die Türkei ausländische Finanzhilfe brauchen wird.
Das Gespräch führte Romana Kayser.