SRF News: Frau Akyol, Sie sind Autorin zweier Bücher über die Situation in der Türkei. Ihr aktuelles Buch ist eine kritische Biografie über Recep Tayyip Erdogan. Leben Sie gefährlich im Moment ?
Cigdem Akyol: Man muss schon ein gewisses Risiko eingehen und einkalkulieren, dass es Konsequenzen geben könnte, wenn man solche Bücher schreibt. Denn die Pressefreiheit in der Türkei wird Stück für Stück abgebaut. Auf einer Liste von 180 Ländern der Organisation «Reporter ohne Grenzen» befindet sich die Türkei auf Platz 151.
Ist die Lage für ausländische Journalisten anders als für türkische Medienschaffende?
Da gibt es einen ganz grossen Unterschied. Die Kollegen, die in der Türkei kritisch berichten, stehen unter sehr grossem Druck. Sie müssen jeden Tag damit rechnen, dass sie ins Gefängnis müssen, ihnen die Pässe entzogen, sie verklagt werden. Unter so einem Druck stehen wir Auslandskorrespondenten nicht. Womit wir rechnen müssen ist, dass uns unsere Presseausweise entzogen werden.
Häufig geht vergessen, dass Erdogan eigentlich als Reformer gestartet ist. Was sind die Gründe für Erdogans Wandlung?
Erdogan ist, als er 2003 Ministerpräsident wurde, tatsächlich als Reformer angetreten. Er hat teilweise die Pressefreiheit ausgeweitet, die Frauenrechte gestärkt und die Türkei vor die Tore der EU geführt.
Viele dieser Reforman wurden später rückgängig gemacht. Das fing etwa in den Jahren 2007/2008 an. Das Militär drohte mit einem Putsch. Das Verfassungsgericht verhandelte über ein Verbot von Erdogans AKP. Das waren die Momente, wo er immer härter wurde.
Erdogan wurde von Wahl zu Wahl autokratischer. Es ist davon auszugehen, dass er tatsächlich eine Agenda hatte, ein Präsidialsystem anzustreben. Die Agenda zieht er nun mit aller Macht durch.
Trotzdem gewinnt er die Mehrheit des Volkes für sich. Wie gelingt ihm dies?
Erdogan macht mit Nationalismus Stimmung. Er symbolisiert die starke Hand, die die Nation schützt. Erdogan ist ein Menschenfänger. Millionen Menschen sprechen auf seine teilweise hetzerische Rhetorik an.
In Ihren Büchern sprechen Sie von «schwarzen» und «weissen» Türken. Erdogan ist demnach ein «schwarzer» Türke. Was ist das? Und was bedeutet das für Erdogans Position?
Die sogenannten «weissen» Türken, die Oberschicht, haben das Land jahrzehntelang regiert und die «schwarzen» Türken unterdrückt. Erdogan ist ein «schwarzer» Türke, der aus der Unterschicht stammt. Er war der erste, dem es gelang, glaubwürdig zu vermitteln: Ich bin einer von euch, ich bin ein «schwarzer» Türke, ich gebe euch eine Stimme. Er hat seine Herkunft instrumentalisiert und Millionen Menschen hinter sich geschart.
Welche Rolle spielt die Religion für Erdogan?
Erdogan war schon immer ein konservativer sunnitischer Moslem. Er hat liberale Reformen angestossen. Auf seiner Agenda hatte er eine Re-Islamisierung der laizistischen Türkei aber immer. Das hat er geschickt eingesetzt, weil eine Sehnsucht da war, seinen Glauben auch mal öffentlich zeigen zu können. Religion ist ein sehr grosser Faktor dabei geworden, um Erdogan zu wählen.
Haben die Gezi-Proteste 2013 darüber hinweggetäuscht, dass ein Grossteil der Türken gar nicht gegen Erdogan war?
Die Gezi-Proteste haben gezeigt, dass lediglich die Hälfte der Türken hinter Erdogan steht. Es stehen eben auch Millionen nicht hinter Erdogan – trotz der Wahlergebnisse. Sie wollen nicht von ihm bevormundet werden.
Die EU drängte einst auf eine Schwächung des türkischen Militärs. Könnte Brüssel diese Forderung bereuen?
Erdogan hat die Türkei auf Wunsch der EU hin demilitarisiert. Was Europa dabei übersehen hat: Mit der Demilitarisierung hat Erdogan einen seiner stärksten Gegner entmachtet. Das Militär ist heute unter politische Führung gestellt – und darüber bestimmt Erdogan.
Auch in der Flüchtlingsfrage hat die EU sich wohl verschätzt. Hat sie sich zu erpressbar gemacht?
Die EU hat sich tatsächlich eine Zeit lang erpressbar gemacht, weil sie der Türkei zu viele Zugeständnisse gemacht hat, was Menschenrechte, Pressefreiheit und Demokratie angeht. Aber die EU ist nicht so erpressbar, wie es scheint. Auch Erdogan ist auf starke Partner angewiesen und hat Interesse am Bestand des Flüchtlingsdeals.
Sie zitieren Erdogan mit den Worten: «Die Demokratie ist ein Zug und wenn wir angekommen sind, steigen wir aus.» Wann steigt Erdogan aus diesem Zug aus?
Für Erdogan ist es sehr wichtig, sich den Anschein eines demokratisch gewählten Präsidenten zu geben. Die Wahlen haben unter demokratischen Verhältnissen stattgefunden, aber nicht unter fairen Bedingungen. Wir erleben in der Türkei, dass er immer undemokratischer wird. Und dieser Satz, den sie zitiert haben, der ist kurz davor, wo man sagen kann: «Er ist ausgestiegen.»
In diesem Fall wäre die Türkei eine Diktatur?
Nein, es gibt immer noch Oppositionsparteien in der Türkei. Es gibt immer noch wenige kritische Journalisten, es gibt immer noch Auslandspresse, aber die Türkei geht in Richtung autokratisches parlamentarisches System.
Das Gespräch führte Oliver Roscher.