Der türkische Prediger Fethullah Gülen ist gestorben. Er galt als grösster Kontrahent des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
2016 soll Gülen mit seiner Bewegung, die nach ihm selbst benannt ist, versucht haben, einen Putsch gegen Erdogan durchzuführen. Wie es nun um die Gülen-Bewegung steht, weiss der freie Journalist Thomas Seibert.
SRF News: Was bedeutet der Tod Gülens für die Bewegung?
Thomas Seibert: Gülen war das geistige Oberhaupt und der Impulsgeber dieser Bewegung. Sie dürfte sich ohne ihren Anführer verkleinern. Manche Beobachter in der Türkei erwarten jetzt Kämpfe innerhalb dieser Gruppe und möglicherweise auch eine Spaltung. Unter dem Strich: Ohne den Chef und Namensgeber wird die Bewegung auf jeden Fall in einen Niedergang übergehen.
Gülen lebte seit Jahren im Exil in den USA. Wofür steht seine Bewegung heute noch?
Gülen wurde als Vertreter einer islamischen Bewegung bekannt, die den «Dienst am Nächsten» in den Vordergrund stellte. Diese Bewegung war zunächst bei den türkischen Militärs in den 90er-Jahren beliebt, weil sie auch nationalistisch islamisch war. Doch dann wurde Gülen den Militärs suspekt. Ihm wurde vorgeworfen, einen islamistischen Putsch vorzubereiten. Er floh in die USA und ist nie wieder in die Türkei zurückgekehrt.
Erdogan und Gülen waren jahrelang Verbündete gegen die damals noch vorherrschende Machtstellung der Militärs.
Gülens islamische Vorstellung wurde auch von anderen Teilen der türkischen Islamisten aufgenommen, auch im Umkreis des späteren Präsidenten Erdogan. Erdogan und Gülen waren jahrelang Verbündete gegen die damals noch vorherrschende Machtstellung der Militärs. Als die Militärs entmachtet waren, überwarfen sich Gülen und Erdogan im Kampf um die Macht. Das Ganze gipfelte im Putschversuch gegen Erdogan 2016.
Wie kam es zum Bruch der beiden?
Die Gülen-Bewegung hatte in der Türkei weit Fuss gefasst, unter anderem in der Justiz und in der Polizei. Als die Spannungen mit Erdogan grösser wurden, nutzte die Gülen-Bewegung ihre Leute im Staatsapparat, um zum Beispiel Vernehmungsprotokolle oder abgehörte Telefongespräche an die Öffentlichkeit zu bringen, um Erdogan schlecht aussehen zu lassen. Daraufhin begann Erdogan mit der Verfolgung der Gülen-Anhänger bis ins Ausland. Nach dem Putsch wurden Zehntausende festgenommen. Teils sitzen sie heute noch im Gefängnis. Der türkische Geheimdienst kidnappte auch angebliche Gülen-Leute im Ausland und brachte sie in die Türkei zurück.
Für Erdogan ist der Tod Gülens eine Erleichterung.
Es gab unzählige Prozesse und Säuberungswellen gegen angebliche Gülen-Vertraute. Wie ist das heute?
Die Verfolgung dieser Gruppe geht immer noch weiter. Erst kürzlich wurde gemeldet, dass der türkische Geheimdienst angebliche Gülen-Leute in Kenia festgenommen und in die Türkei zurückgebracht haben soll. Allerdings werden auch andere Rechnungen beglichen: Der Vorwurf der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung wird manchmal nur als Vorwand gebraucht, um Leute aus dem politischen System zu drängen.
Was bedeutet der Tod Gülens für Präsident Erdogan?
Gülens Tod wird Erdogan wohl in seiner Aussenpolitik zugutekommen. Denn die türkische Forderung nach einer Auslieferung von Gülen aus den USA sorgte jahrelang für Streit zwischen Ankara und Washington. Auch in den türkischen Beziehungen zu Europa könnte es Entspannung geben: Erdogan fordert von den Europäern immer wieder, gegen die Gülen-Bewegung in ihren Ländern vorzugehen. Wenn sie jetzt tatsächlich geschwächt wird oder sich gar spaltet, ist diese Forderung nicht mehr dringlich. Für Erdogan ist der Tod Gülens also eine Erleichterung.
Das Gespräch führte Silvan Zemp.