- Die Verbote von Wahlkampfauftritten türkischer Minister in Europa spielen Erdogan in die Hände – seine Strategie der Eskalation trägt Früchte.
- Adressat ist das türkische Publikum – schliesslich kämpft Erdogan um jede Stimme für «seine» Verfassungsänderung.
- Erdogan habe mit Provokationsstrategien seine Popularität stets weiter gesteigert, stellt NZZ-Korrespondent Marco Kauffmann fest.
SRF News: Wie reagieren die türkischen Medien auf den Streit zwischen Ankara und diversen europäischen Ländern wegen der Wahlkampfauftritte?
Marco Kauffmann, NZZ-Korrespondent: Der Tenor in den staatsnahen Medien lautet, dass die Türkei Opfer von rechtspopulistischen und islamfeindlichen Kräften in Europa geworden ist. Türkische Minister würden gedemütigt und daran gehindert, ihre Landsleute über das bevorstehende Verfassungsreferendum zu informieren. Die aggressive Rhetorik der eigenen Regierung wird dabei nur sehr vereinzelt thematisiert. Zudem wagen es die weitgehend gleichgeschalteten Medien in der Türkei nicht, Präsident Recep Tayyip Erdogans Strategie infrage zu stellen.
Wie kommt es in der Bevölkerung an, dass immer mehr EU-Länder Wahlkampfauftritte von türkischen Spitzenpolitikern verhindern?
Viele empfinden das durchaus als Zurückweisung und Beleidigung. Sie fühlen sich in ihrem Stolz verletzt. Sogar Erdogan-kritische Bürger verurteilen die Verhinderungspolitik der Europäer.
Erdogan muss die noch Unentschlossenen sowie nationalistische Kreise für sich gewinnen. Das macht er, indem er sich und die Türkei in die Opferrolle bringt. Gleichzeitig inszeniert er sich als unerschrockener Kämpfer für sein Volk.
Erdogan wirft den Niederlanden Faschismus vor und bezeichnet das Land als Bananenrepublik. Welche Strategie verfolgt der türkische Präsident damit?
Es ist eindeutig eine Eskalationsstrategie, die für die einheimische Bühne gedacht ist. Erdogan nutzt den Konflikt, um den Abstimmungskampf für den Urnengang am 16. April zu befeuern. Dann entscheiden die Türkinnen und Türken über eine neue Verfassung, welche ein Präsidialsystem einführt, das Erdogan noch mehr Macht gibt. Derzeit ist unsicher, ob er das Referendum gewinnt. Deshalb muss er insbesondere die noch Unentschlossenen sowie nationalistische Kreise für sich gewinnen. Das macht er, indem er sich und die Türkei in die Opferrolle bringt. Gleichzeitig inszeniert sich Erdogan als unerschrockener Kämpfer für sich und sein Volk. In dieser Logik haben das Verbot der Auftritte in den Niederlanden und die heftigen Diskussionen in anderen Ländern Erdogan nun in die Hände gespielt.
Mit der Provokationsstrategie lenkt die islamisch-konservative Regierung auch von den beträchtlichen innenpolitischen Problemen ab.
Heisst das, die Niederlande, Dänemark und Deutschland sind Erdogan in die Wahlkampf-Falle getappt?
Man kann das so sehen, sie haben quasi den Köder geschluckt. Allerdings müssen diese Länder natürlich gemäss ihrem eigenen Wertekanon über die türkischen Propaganda-Auftritte befinden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die türkischen Politiker die Absagen der Veranstaltungen mit ihrer aggressiven Rhetorik auch selber mitverursacht haben.
Welche Rolle spielt die Opposition in der Türkei? Rückt diese nun näher an die türkische Regierung heran?
Es gibt tatsächlich eine gewisse Annäherung. So hat der Oppositionsführer kritisiert, dass den Regierungsmitgliedern in den europäischen Ländern Steine in den Weg gelegt würden. Doch die inhaltlichen Differenzen sind immer noch dieselben: Die Oppositionsparteien des linken Spektrums lehnen die Verfassungsänderung entschieden ab, auch haben sie Erdogans Nazi-Vergleiche entschieden zurückgewiesen.
Wird Erdogan diese aggressive Taktik nun bis zur Verfassungsreform in einem Monat weiterverfolgen?
Ich gehe davon aus. Erdogan könnte diesen aggressiven Stil sogar über den Abstimmungstermin hinaus weiter pflegen. Er ist ein Meister der Provokation und hat damit seine Popularität in der Türkei stets weiter gesteigert. Zudem lenkt die islamisch-konservative Regierung damit von den beträchtlichen innenpolitischen Problemen ab.
Das Gespräch führt Susanne Schmugge.
Die Vorgeschichte:
- Zahlreiche türkische Minister wollten und wollen in EU-Ländern vor ihren Landsleuten für die Verfassungsänderung werben, über die am 16. April abgestimmt wird, und die Präsident Erdogan noch mehr Macht geben soll.
- Die Auftritte der türkischen Minister sorgen in den EU-Ländern für ein Gezerre: In Deutschland wurden einige Auftritte abgesagt – aus Sicherheitsbedenken. Ebenso in der Schweiz. Dänemark bat den türkischen Ministerpräsidenten, einen geplanten Besuch zu verschieben. In Schweden oder Frankreich gingen Veranstaltungen von AKP-Politikern dagegen ohne grössere Dissonanzen über die Bühne.
- Ausser Kontrolle geraten ist der Streit zwischen der Türkei und der Niederlande: Den Haag will so kurz vor der Parlamentswahl (sie findet am 15. März statt) keine umstrittenen Auftritte türkischer Minister im Land. Deshalb verweigerte die Regierung dem türkischen Aussenminister am Samstag die Einreise, zudem wurde die türkische Sozialministerin ausgewiesen. Erdogan bezeichnete niederländische Regierungsmitglieder daraufhin als «Nazi-Nachfahren» und «Faschisten». Weiter drohte er, die Antwort darauf werde in der «schwersten Art und Weise ausfallen». Die Türkei fordert eine Entschuldigung wegen der Ausweisung der Ministerin, doch Den Haag schliesst eine solche aus.