Der Nahostkonflikt weitet sich aus: Bei israelischen Luftangriffen in Libanon sind am Montag rund 500 Menschen ums Leben gekommen, über 1600 wurden verletzt. Es ist die höchste Opferzahl in Südlibanon seit dem letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz vor 18 Jahren. Die Angriffe gehen am Dienstagvormittag offenbar weiter. Meret Michel lebt in Beirut, der Hauptstadt Libanons, und schildert die dramatische Lage vor Ort.
SRF News: Wie präsentiert sich die Lage zurzeit vor Ort?
Meret Michel: Die Menschen in Libanon waren in den letzten Tagen seit den Pager-Explosionen in einer Art kollektivem Schockzustand und seither ist alles wahnsinnig schnell eskaliert. Es sind nun nicht mehr einzelne israelische Angriffe, die sich vor allem auf die Grenzregion konzentrieren, sondern ein Flächenbombardement, das bis 40 Kilometer vor die Hauptstadt reicht. Fast 500 Menschen sind dabei getötet worden. Zum Vergleich: Das sind halb so viele Todesopfer wie im letzten Krieg zwischen Libanon und Israel 2006. Dieser Krieg dauerte jedoch einen Monat.
Haben die Menschen in Beirut einen Ort, wo sie sich in Sicherheit begeben können; einen Luftschutzkeller oder Ähnliches?
Nein. Es gibt in Libanon – anders als in Israel – weder Luftschutzkeller noch Sirenenalarm. Und wer sich in Sicherheit bringen will, dem bleibt eigentlich nur die Flucht. Das Resultat ist das, was wir am Montag gesehen haben: Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Menschen, die in ihre Autos gestiegen sind und versuchen, Richtung Norden zu gelangen. Die Menschen werden teilweise in Schulen untergebracht, die ihre Türen geöffnet haben oder schlafen auf Strassen oder in Parks. Der libanesische Staat ist kaum in der Lage, diese Menschen zu schützen.
Die Voraussetzungen in Libanon, vor allem für öffentliche Spitäler, sind sehr schwierig. Der Staat ist seit fünf Jahren bankrott.
Sie haben eine Flüchtlingsfamilie bei sich aufgenommen. Woher kommen diese Menschen?
Die Familie stammt aus Sidon, 40 Kilometer südlich von Beirut entfernt. Der Vater der Familie ist im Rollstuhl und die Familie hat enorme Angst, dass die Strasse, welche Sidon mit Beirut verbindet, wie im Jahre 2006 bombardiert wird. Damals waren die Menschen in Sidon eingeschlossen und es gab kaum noch Strom und Wasser.
Wie dramatisch ist die Situation in den Spitälern?
Ich habe am Montagmorgen das grösste Spital in Libanon besucht, und der Direktor hat mir erzählt, wie sie sich auf eine mögliche Eskalation des Krieges vorbereitet haben. Die Voraussetzungen in Libanon, vor allem für öffentliche Spitäler, sind sehr schwierig. Der Staat ist seit fünf Jahren bankrott und kaum noch funktionsfähig. Das Rafik-Hariri-Spital war bereits vor dem Krieg nur eingeschränkt funktionsfähig.
Vor den Angriffen gab es in Libanon viele, die die Hisbollah gar nicht mochten. Werden diese Angriffe Israels etwas an der Haltung der Menschen gegenüber der Hisbollah ändern?
Die Wut jener, die bereits vorher gegen die Hisbollah waren, ist auf jeden Fall nochmals massiv gestiegen. Denn die Hisbollah hat sich dadurch, dass sie ein Ende ihrer Angriffe auf Israel an ein Waffenstillstandsabkommen in Gaza gekoppelt haben, in eine Position manövriert, aus der sie jetzt kaum noch herauskommen. Gleichzeitig ist die israelische Regierung bereit, den Krieg ihrerseits weiter eskalieren zu lassen. Die Menschen fühlen sich komplett ausgeliefert, weil weder die Hisbollah noch der libanesische Staat in der Lage sind, sie zu schützen; und weil auch die internationale Gemeinschaft offenbar nicht in der Lage oder willens ist, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.