Die Türkei ist in der syrischen Provinz Idlib in einer extrem schwierigen Lage, in die sie sich ein Stück weit selbst manövriert hat. Präsident Erdogan war keineswegs ein neutraler Nachbar: Er sah und sieht sich als Fürsprecher der syrischen Assad-Gegner, jedenfalls der arabischen Sunniten unter ihnen. Er hat seit Kriegsbeginn in Syrien Rebellen unterstützt, auch islamistische – und kämpft jetzt mit den Folgen.
Nie während des Syrienkriegs hat die Türkei bei einem Angriff annähernd so viele Armeemitglieder verloren wie nun. Erdogan hat in den letzten Wochen die türkische Militärpräsenz in Idlib massiv verstärkt. Er spricht nun von Eskalation und verlangt die Rückkehr zur Waffenruhe nach den Vereinbarungen von «Sotschi» vom Herbst 2018.
Niemand hält sich an Abmachungen
Der syrische Präsident Assad hat andere Pläne. Dass er «jeden Quadratmeter» Syriens zurückerobern will, hat er klargemacht. Dass er bereit ist, dafür unbeschreibliches menschliches Leid in Kauf zu nehmen, auch.
Aber auch die Türkei hielt ihren Teil der Abmachungen von «Sotschi» nicht ein, was den russischen Präsidenten Putin ungeduldig werden liess und Assad einen Vorwand gab, die Grossoffensive voranzutreiben.
Erdogan hätte die «Radikalen» unter den Rebellen – gemeint waren die Al-Qaida-nahen Jihadisten von Hayat Tahrir Asch-scham – aus einer «Pufferzone» entfernen müssen. Ausserdem hätte laut Abmachungen die Autobahn zwischen Damaskus und Aleppo für den Verkehr durch Idlib gesichert werden müssen.
Weder das eine noch das andere geschah. Ob Erdogan seinen Teil von «Sotschi» nicht einhalten konnte oder nicht einhalten wollte, darüber wird gestritten.
Symbol für Erdogans Schwäche
Sicher ist, mit russischer und wohl auch wieder iranischer Unterstützung hat Assad die Front weit nach Norden verschoben. Die Hälfte der Provinz Idlib ist wieder unter Regimekontrolle. Und einige der türkischen Beobachtungsposten, die Erdogan in der Provinz errichten liess, um die «Pufferzone» zu überwachen, stehen inzwischen «verloren» im von Assad-Truppen kontrolliertem Gebiet. Als Symbol für Erdogans Schwäche.
Die humanitäre Not, ein weiteres Mal in Syrien, ist unbeschreiblich: Gegen eine Million Menschen stauen sich im Norden der Provinz Idlibs, an der Grenze zur Türkei, in der Winterkälte, unter miserablen Bedingungen. Die Grenze bleibt für sie geschlossen: Die Türkei fürchtet eine neue gewaltige Flüchtlingswelle. Und mit den Flüchtlingen aus Idlib könnten Rebellen aller Schattierungen, auch jihadistsiche, in die Türkei kommen.
Kein Fluchtspunkt mehr für Aufständische
Idlib war der Fluchtpunkt für Aufständische aus anderen Landesteilen Syriens. Wo immer die Regimekräfte ein Rebellengebiet zerstört hatten, flohen Kämpfer, die nicht zur Kapitulation bereit waren nach Idlib. Und nun? Es gibt kein zweites Idlib für sie.
Erdogan scheint in der nordwestsyrischen Provinz nur noch schlechte Optionen zu haben. Die am wenigsten schlechte wäre wohl, den Konflikt auf unbestimmte Zeit «einzufrieren». Dafür hofft die Türkei auf internationale Solidarität. Sie macht Druck, fordert von der Nato Hilfe, droht der EU, insbesondere damit, dass die Türkei ihrerseits die Grenze für syrische Flüchtlinge nach Europa wieder öffnen werde.
Was Erdogan damit erreicht, bleibt abzuwarten. Die EU ermahnte die Türkei zunächst nur, ihre Verpflichtungen aus dem «Migrationspakt» einzuhalten, während die Nato an die Konfliktparteien appellierte, sofort zu einer Waffenruhe in Idlib zurückzukehren, die es längst nicht mehr gibt.