Das Abkommen, über das die Staats- und Regierungschefs der EU Ende Woche wieder verhandeln, klingt einleuchtend. Es ist aber rechtlich umstritten. Von «kollektiven und willkürlichen Ausweisungen, die illegal sind», spricht der UNO-Menschenrechtskommissar. So sieht es auch Migrationsexperte Hendrik Cremer am Deutschen Institut für Menschenrechte.
SRF News: Ist das wirklich eine Massenabschiebung, wenn man gleichzeitig einen legalen Weg zur Einreise öffnet?
Hendrik Cremer: Der zentrale Punkt ist, dass in der Genfer Flüchtlingskonvention und auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention das Verbot der Zurückweisung garantiert ist. Das beinhaltet das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren ebenso wie das Verbot kollektiver Aus- und Zurückweisung. Insofern würden diese Pläne ganz klar auf menschenrechtliche Verstösse hinauslaufen.
Gilt das auch, wenn man die Türkei als sicheren Drittstaat bezeichnet?
Die EU-Mitgliedstaaten können sich ihrer Verantwortung nicht mit bilaterale Vereinbarungen entziehen. Zudem erfüllt die Türkei die Voraussetzungen eines Drittstaats nicht, weil sie die Genfer Flüchtlingskonvention nur unter Vorbehalt anerkennt. Sie gilt in der Türkei nur für Flüchtlinge aus Europa, aber nicht für jene aus Ländern wie etwa Syrien oder Irak. Zudem finden immer wieder Abschiebungen aus der Türkei heraus statt, wie diverse Berichte dokumentieren.
Automatische Zurückweisungen verstossen immer kategorisch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention.
Und ein ganz wesentlicher Punkt, der in der Debatte wenig erwähnt wird: Der Einzelne muss immer eine Beschwerdemöglichkeit haben. Automatische Zurückweisungen verstossen damit immer kategorisch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention.
Und der verstärkte Schutz der Aussengrenzen gegen Flüchtlinge. Ist dieser Teil der europäischen Strategie legitim?
Nein. Die Genfer Flüchtlingskommission und die Europäische Menschenrechtskonvention untersagen Zurückweisungen von Schutzsuchenden an der Grenze. Schutzsuchenden muss also Zugang gewährt werden. Sie haben das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren und eine Beschwerdemöglichkeit.
Und wenn ein Nato-Schiff Flüchtlinge aufgreift und ins Nato-Land Türkei zurückschafft? Ist das rechtmässig?
Nein, hier geht es auch um die Verantwortung der Staaten. Sie können sich nicht durch Konstruktionen der Verantwortung entziehen, indem sie diese auf internationale Organisationen auslagern. Zurückweisungen auf hoher See sind genauso untersagt wie Zurückweisungen an der Grenze. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits explizit festgestellt.
Zurückweisungen auf hoher See sind genauso untersagt wie Zurückweisungen an der Grenze.
Was kann denn Europa legal tun, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren?
Es ist wichtig, dass die Debatte etwas anders geführt wird. Aktuell besteht der Eindruck, als ob alle Menschen dieser Welt nach Europa fliehen würden. Das ist mitnichten der Fall. Von den momentan ungefähr 60 Millionen Menschen auf der Flucht bleiben viele im eigenen Staat oder in der Nachbarregion. So sind etwa fünf Millionen Syrer in der Türkei, den Libanon und nach Jordanien geflohen. Es wäre also wichtig, diese Länder bei der Aufnahme zu unterstützen.
Wenn das Problem anderswo grösser ist, heisst das ja nicht, dass es für Europa keines ist. Oder doch?
Nein. Aber die EU-Staaten müssen sich ihrer Verantwortung stärker bewusst werden. Auch braucht es eine Strategie für eine bessere Koordinierung. Sonst verspielt Europa die Glaubwürdigkeit und verabschiedet sich von den Menschenrechten und den Verbindlichkeiten aus der Genfer Flüchtlingskonvention.
Hiesse das in der Praxis also: Man muss die Flüchtlinge hereinlassen und ein ordentliches Asylverfahren durchführen. Da führt nichts daran vorbei?
Richtig, so ist es.
Das Interview führte Roman Fillinger.