Die drei mächtigsten EU-Politiker hatten die heutige Entscheidung in Brüssel bereits in der vergangenen Woche vorweggenommen. Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Mario Draghi sprachen sich bei ihrem Besuch in Kiew für den EU-Kandidatenstatus der Ukraine aus. Durch die öffentliche Unterstützung nahmen sie kritischen Ländern wie Portugal oder den Niederlanden den Wind aus den Segeln. Es wäre schwierig für die europäischen Mitgliedstaaten, wenn sie seit über drei Monaten die klare Solidarität für die Ukraine betonen, beim Kandidatenstatus aber eine kontroverse Diskussion führen würden.
Nicht einmal Ungarn, dessen Positionierung im Ukraine-Krieg nicht klar ist, äusserte sich in der Öffentlichkeit kritisch bezüglich des Kandidatenstatus. Die heutige Zustimmung aller 27-Mitgliedstaaten ist daher ein wichtiges Zeichen für die ukrainische Bevölkerung, dass eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union eine wirkliche Perspektive ist.
Ein langer Weg
Der Kandidatenstatus ist allerdings, etwas nüchtern betrachtet, ein erster kleiner Schritt in einem langen Beitrittsprozess. Die Europäische Kommission legt einen ganzen Katalog mit Bedingungen vor, welche die Ukraine erfüllen muss, um einen nächsten Schritt nehmen zu können.
Es ist, gerade gegenüber anderen Beitrittskandidaten, wichtig, dass die Ukraine keine Sonderbehandlungen bei der Prüfung dieser Kriterien erhält. Auch wenn die Ukraine wegen des Kriegs in einer aussergewöhnlichen Situation ist, kann die Europäische Union nur mit jenen Staaten Beitrittsverhandlungen führen, die in Bezug auf die Bekämpfung von Korruption oder der Rechtsstaatlichkeit die vorgegebenen Bedingungen erfüllen.
Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, ob die Europäische Union überhaupt bereit ist, neue Mitglieder aufzunehmen. Durch die komplexer werdenden Probleme stösst die EU bereits heute an ihre institutionellen Grenzen. Das Einstimmigkeitsprinzip, das es für viele Entscheidungen im Europäischen Rat braucht, lähmt eine konstruktive Zusammenarbeit der 27 Mitgliedstaaten. Es braucht folglich interne Reformen, damit die EU ernsthafte Beitrittsverhandlungen mit potenziellen Mitgliedstaaten führen kann.
Unbefriedigende Situation für den Westbalkan
Diese Ausgangslage sorgt für viel Unmut im Westbalkan. Das ist verständlich. Gerade Albanien und Nordmazedonien warten darauf, eine ernsthafte Perspektive für die EU-Mitgliedschaft zu erhalten. Solange aber einzelne Mitgliedstaaten, wie Bulgarien im Falle von Nordmazedonien, weitere Schritte im Beitrittsprozess blockieren können und die EU selbst nicht weiss, wie die Erweiterungspolitik aussehen soll, wird es im Beitrittsprozess nicht weitergehen können.
Eine unangenehme Situation für die EU, auch im Wissen darum, dass die EU den Westbalkan an Europa binden muss, da diese Region auch für Russland und China attraktiv ist.