Europa hat gewählt. Was das Resultat für die Zukunft der EU bedeuten könnte, erläutert Gilbert Casasus, Professor für Europastudien an der Universität Freiburg.
SRF News: Was ist Ihr wichtigstes Fazit aus dieser Wahl?
Gilbert Casasus: Diese Europawahl war weder die Trauerfeier der europäischen Politikverdrossenheit noch die Trauerfeier der Europäischen Union. Es gibt zwei positive Ergebnisse aus Sicht der Pro-Europäer. Das erste ist die hohe Wahlbeteiligung. Zweitens stellen die pro-europäischen Parteien 70 Prozent der Mitglieder des zukünftigen Parlaments. Das heisst: Die grosse Mehrheit der Parteien sind pro-europäisch.
Inzwischen stellen die Nationalisten und Rechtskonservativen rund einen Viertel der Abgeordneten, das ist aus meiner Sicht viel zu viel. Aber es ist weniger als befürchtet.
Sind Sie überrascht über den Ausgang dieser Wahl?
Ich bin zum Teil überrascht, aus zwei Gründen. Erstens: Was man vorausgesehen hat, ist eingetreten, aber nicht so, wie es erwartet wurde. Für mich sind die grossen Gewinner die Grünen. Der grünen Fraktion hat man prophezeit, sie werde zulegen und erwartete zwischen fünf und zehn Abgeordneten mehr. Inzwischen sind es zirka 20.
Der zweite Grund ist, dass die Rechtskonservativen und die Nationalisten zugelegt haben. Aber der Zuwachs ist nicht so hoch, wie man gedacht hat. Inzwischen stellen sie rund einen Viertel der Abgeordneten, das ist aus meiner Sicht viel zu viel. Aber es ist weniger als befürchtet.
Wahlsieger sind die Grünen. Erklären Sie sich das mit dem Greta-Effekt?
Es ist ein Zeitgeist-Effekt. Das ökologische Bewusstsein bildet eine der wichtigsten Komponenten des aktuellen politischen Geschehens. Das heisst, im Gegensatz zu anderen Parteien haben die Grünen den Geist der Zeit erkannt. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass sich die Jugend mobilisiert hat und dass die Grünen nun die Partei sind, mit der sie sich am meisten identifiziert.
Die Parteien, die seit Ende des Krieges für die Zukunft Europas verantwortlich waren, sind am Ende eines Zyklus'.
In Italien wurde die Lega die stärkste Kraft. Fruchten Salvinis Anti-EU-Kurs und die Anti-Migrationspolitik?
Der Fall Italiens ein bisschen komplizierter. Die anderen Länder haben Italien im Stich gelassen, gerade unter der Renzi-Regierung. Dies ist nun die Quittung.
Die traditionellen Parteien verlieren deutlich. Wie erklären Sie sich das?
Wir leben in einer Zeit des tektonischen Umbruchs in der Politik Europas. Die Parteien, die seit Ende des Krieges für die Zukunft Europas verantwortlich waren, sind am Ende eines Zyklus’. Sie haben uns Frieden und Demokratie gebracht. Andererseits sind es nicht mehr die Parteien, denen man das Vertrauen schenkt.
Wohin steuert die EU in den kommenden Jahren?
Ein Themenfeld ist von der EU vernachlässigt worden: die Sozialpolitik. Wir können nicht mehr akzeptieren, dass in einigen Ländern der Durchschnittslohn bei 2500 Euro liegt, in anderen Ländern bei 600 Euro. So geht es nicht. Stellen Sie sich vor, in einem Kanton würde man fünfmal mehr verdienen als in einem andern. Die Schweiz hat kapiert, dass man so nicht wirtschaftet und keine solche Sozialpolitik führen sollte.
In der Schweiz finden im Herbst nationale Wahlen statt. Sehen Sie für die Schweiz eine Tendenz?
Ich glaube, dass die Themen Umweltschutz und Klima im progressiven Denken in der Schweiz eine Rolle spielen. Wenn das der Fall ist, ist es ein Zeichen, dass die Schweiz ein europäisches Land ist.
Müssen die etablierten Parteien in der Schweiz auch mit Verlusten rechnen?
Wir haben aufgrund der Zauberformel ein anderes System. Aber sie kann nicht ewig halten. Stellen Sie sich vor, ein grünes Bündnis würde viel mehr Stimmen erhalten als traditionelle Parteien. Was passiert dann mit der Zauberformel?
Das Gespräch führte Samuel Wyss.