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Europawahl 2019 «Man ist uneins, was die EU überhaupt sein soll»

Vor 40 Jahren fanden erstmals EU-Wahlen statt. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Doch Brexit, Migration und der politische Populismus im Osten können einem schon die Feierlaune verderben. Für Niklaus Nuspliger, EU-Korrespondent der NZZ und Buchautor, liegen die Gründe für das Dilemma auf der Hand – und deren Lösung auch.

Niklaus Nuspliger

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Der Journalist und Autor Niklaus Nuspliger berichtet für die Neue Zürcher Zeitung NZZ aus London. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre als politischer Korrespondent für die NZZ in Brüssel.

SRF News: Worin liegen Ihrer Ansicht nach die Hauptgründe für diese Krise?

Niklaus Nuspliger: Ich sehe zwei Punkte, die auf europäischer Ebene die Demokratie in die Krise geführt haben. Zum einen verstehen die Bürgerinnen und Bürger kaum noch, wer überhaupt in der Verantwortung steht. Zum anderen glauben viele, dass eigentlich nur noch Lobbyisten entscheiden, was politisch geschieht. Sie beklagen sich, dass immer mehr Macht ausgelagert wird an internationale Bürokratien, Gerichte und Märkte. Und sie haben den Eindruck, sie hätten immer weniger zu sagen.

Man ist sich nicht einig, was die EU überhaupt sein soll.

Auf europäischer Ebene ist die Demokratie nicht ausgereift genug, um wirklich demokratisch wichtige politische Entscheidungen fällen zu können.

War das schon immer so?

Ich denke, es war von Anfang an so. Das Grundproblem: Man ist sich nicht einig, was die EU überhaupt sein soll. Soll sie zu den Vereinigten Staaten Europas werden oder bloss ein loser Bund von kooperierenden Staaten sein? Verschärfend hinzu kommen und kamen die Flüchtlingskrise, die Euro-Krise und jüngst auch der Brexit. Letzterer ist auch ein Zeichen dafür, dass die viele zum Eindruck gelangt sind, dass sie in Brüssel eben keine Möglichkeit mehr haben, auf die Entscheidungen Einfluss zu nehmen.

Was sind die Hauptprobleme für die EU?

Ich glaube, es gibt zwei grosse Gefahren für die Demokratie in Europa. Die eine sind die Nationalisten und Populisten – da ist Ungarn das beste Beispiel. Seit Viktor Orban an der Macht ist, hat er nach und nach die verschiedenen «Checks and Balances» ausser Kraft gesetzt. Gerade hat er auch die Wahlgesetze geändert, sodass es sehr schwierig geworden ist für die Opposition, überhaupt noch einen Machtwechsel herbeizuführen. Aber genau die Möglichkeit eines Machtwechsels macht letztlich die Demokratie aus.

Mehr Macht für das Volk darf nicht heissen: alle Macht für das Volk.

Die andere Gefahr ist jene der Technokratie. Es ist so, dass man im politischen Establishment sieht, dass die Bürgerinnen und Bürger auf dünner Faktenlage entscheiden, sich manipulieren lassen und autoritären Rattenfängern auf den Leim gehen. Da sagt man dann schnell, dass es eigentlich besser wäre, wenn die Experten politische Entscheide fällen würden.

Die EU muss sich zwingend wandeln?

Ich glaube, wenn die Demokratie überleben soll in Europa, dann muss sie ihren Bürgern das Gefühl zurückgeben, dass sie auch etwas kontrollieren können – dass sie eben nicht Bürokraten ausgeliefert sind, die letztlich über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Ich denke, dass beispielsweise die direkte Demokratie, so wie wir sie in der Schweiz kennen, eine Inspiration sein könnte.

Klar ist aber auch, mehr Macht für das Volk darf nicht alle Macht für das Volk heissen. Denn wenn eine simple Mehrheit die Grundrechte, die Freiheitsrechte aber auch die demokratischen Spielregeln ausser Kraft setzen kann, dann überleben am Ende weder die Demokratie noch der Rechtsstaat.

Das Gespräch führte Romana Costa.

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