SRF: Das Europa-Parlament hat in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen. Wird das Parlament wieder an Macht einbüssen, wenn dort nun so viele EU-Kritiker einziehen?
Urs Bruderer, SRF-Korrespondent in Brüssel: Es stimmt, dass die Zahl derer zunimmt, die die EU kritisieren oder gar ablehnen und das Parlament am liebsten schliessen würden.
An der Macht des Parlaments ändert das aber nichts. Diese erhält es über die EU-Verträge – und die kann das Parlament nicht verändern. Hinzu kommt: Auch wenn die EU-Gegner zugelegt haben, bleiben sie deutlich in der Minderheit im Parlament. Die Mehrheit bleibt EU-freundlich – und das in den ersten Wahlen seit der grössten wirtschaftlichen und politischen Krise der EU überhaupt.
Dann wird sich die Politik des EU-Parlaments in Zukunft nicht wesentlich verändern?
Das Parlament wird auch in Zukunft eine Politik des EU-freundlichen, mehrheitsfähigen Kompromisses betreiben. Was sich ändern wird, ist die Art der Koalitionen, die solche Kompromisse tragen. Die werden weniger bunt sein in Zukunft. Es wird eigentlich nur noch die grosse Koalition zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokraten funktionieren, andere Konstellationen sind kaum mehr denkbar.
Und: Die Frage ist, ob die EU-freundlichen Parteien an ihrem Kurs festhalten oder ob sie die EU-Skepsis der neuen Konkurrenz übernehmen. Das ist noch nicht absehbar. Es scheint mir aber klar, dass die bisherige, beinahe fraglose Mehrheit für mehr EU nicht mehr so selbstverständlich sein wird in Zukunft.
Am meisten Sitze haben die konservativen Christdemokraten geholt. Heisst das, dass deren Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker nun der nächste EU-Kommissionspräsident ist?
Man hätte erwarten können, dass mindestens die EU-Parteien dies so sehen. Sie haben sich die Sache mit den Spitzenkandidaten ja ausgedacht.
Doch jetzt will auch der Sozialdemokrat Martin Schulz eine Mehrheit für sich im Parlament suchen. Und der Liberale Guy Verhofstadt (der ehemalige belgische Premierminister – Anm. der Red.) hat ebenfalls angekündigt, dass er sich nach wie vor als möglichen Kommissionspräsidenten sieht. Ob das nur der Widerstand der Verlierer in der Wahlnacht ist oder ob da echter Knatsch droht, das muss sich alles erst noch zeigen.