Das Charlotte Masaryková-Kinderheim ist kein deprimierender Ort. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Das grosszügige Haus liegt dort, wo Prag sich in den böhmischen Wäldern verliert. An den Fenstern kleben Papierblumen, im Garten spielt eine Handvoll Kinder.
«Ahoi, hallo! Komm zu uns», ruft Hana Hrabetová. Enthusiastisch stürmt Petr auf die stellvertretende Heimleiterin zu. Der Dreijährige mit den dunklen Knopfaugen umarmt sie – und genauso innig den fremden Radiojournalisten.
Hrabetová erklärt Petr, dass ich nicht sein Papa bin. Der sei am Tag zuvor da gewesen. Petrs Vater hatte Hafturlaub. Auch seine Mutter sitzt im Gefängnis. Und deshalb leben der kleine Petr und seine drei älteren Geschwister hier im Kinderheim.
Emotional oberflächliche Entwicklung
Die Zutraulichkeit, mit der Petr einen wildfremden Mann umarmt, ist ungewöhnlich für einen Dreijährigen, aber typisch für Kinder, die früh in einem Heim landen, sagt Sozialpädagogin Hrabetová. «Ihnen fehlt die Erfahrung von verlässlichen Bindungen. Man könnte sagen, sie sind emotional oberflächlich.»
Dass ihnen als Kleinkinder die fixen Bezugspersonen fehlen, prägt viele Heimkinder ein ganzes Leben lang. «Sie können oft keine engen Bindungen eingehen. Viele Heimkinder wechseln später im Leben häufig ihre Partner», sagt Hrabetová. Rund 200 Kleinkinder leben in Tschechien heute noch in Heimen.
Gegründet wurden die Kleinkinderheime alle noch zu Zeiten des Kommunismus. «Man hielt die kollektive Erziehung für überlegen. Geachtet wurde damals nur auf die körperliche Gesundheit», sagt Hrabetová. «Die emotionale Entwicklung der Kinder spielte kaum eine Rolle.» Dieses Denken gebe es heute natürlich auch in den Kleinkinderheimen nicht mehr, betont sie.
Trotzdem findet es Hrabetová gut, dass die Heime für Kleinkinder spätestens 2025 geschlossen werden und Kinder künftig, wenn immer möglich, in Pflegefamilien platziert werden. Dort könnten sie besser umsorgt werden.
Pflegefamilien löschen das Feuer
Die Podzimeks sind so eine Pflegefamilie. Der in den USA aufgewachsene George hat drei Kinder aus einer früheren Ehe, seine Frau Gabriela zwei. Und seit fünf Jahren leben in dem grossen Haus in einem Prager Vorort immer wieder Pflegekinder.
«Wir sind die Feuerwehr. Wir gehen rein, wenn es brennt. Wir helfen, dass das Feuer nicht wieder ausbricht. Dann übernehmen andere. Das heisst: Ein Kleinkind kommt zu uns. Wir versorgen es, wir lieben es», sagt George.
«Wenn das Kind zurück in seine Familie oder in eine dauerhafte Pflegefamilie kann, dann weinen wir, lassen es ziehen und nehmen ein neues Kind auf, dem wir helfen können.»
Neue Betreuungsangebote für Einzelfälle
Auch im Charlotte Masaryková-Kinderheim bereitet man sich auf die Gesetzesänderung vor. Aus dem Heim soll ein Ort werden, der Familien in Not mit Beratungen, kurzfristigen Betreuungsangeboten und einer anderen Art von Heimunterkunft unterstützt.
Martina, eine Fünfjährige mit dicker Brille und einer leichten geistigen Behinderung, lebt in einer Wohnung, die das Kinderheim gemietet hat. Hier leben vier Kinder in einer kleinen Wohngruppe, betreut von den immer gleichen Personen in einer Art Ersatzfamilie.
Solche Wohngruppen werde es auch künftig brauchen, sagt Sozialpädagogin Hrabetová. «Es wird immer Kinder, auch Kleinkinder, geben, die man nicht in einer Pflegefamilie unterbringen kann.» Kinder mit Behinderungen oder grosse Geschwistergruppen, die man nicht auseinander reissen möchte. Auch sie sollen künftig stärker umsorgt werden als nur versorgt.