Der Skandal: beispielloses Ausmass. Mit dem Namen Contergan ist eine der grössten Arzneimittel-Katastrophen verbunden. Weltweit wurden gegen 12'000 Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft das vermeintlich ungefährliche Schlafmittel genommen hatten, bereits als Embryos schwer geschädigt: Sie kamen ohne Schultergelenke und Arme oder mit Fehlbildungen an Armen, Beinen, Hüftgelenken oder an den Ohren auf die Welt.
Die Geschädigten: Folgen bis heute. Laut dem deutschen Bundesverband Contergangeschädigter leben heute noch rund 2400 Betroffene. Allerdings haben sie mit schweren Folgeschäden ihrer Behinderungen zu kämpfen. Verursacht durch fehlbildungsbedingte jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur. Auch nähmen bei den Betroffen psychische Beeinträchtigungen zu, darunter depressive Störungen.
Geschädigte in der Schweiz: In der Schweiz war der in Contergan enthaltene Wirkstoff Thalidomid unter dem Namen Softenon verkauft worden. Dieses Mittel war aber im Gegensatz zu Contergan rezeptpflichtig. Neun «Contergan-Kinder» kamen laut offiziellen Angaben in der Schweiz zur Welt, darunter der heutige Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr.
Das Medikament: «harmlos»! Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan war am 1. Oktober 1957 rezeptfrei in den Handel gekommen. Selbst bei Überdosierung sollte Contergan keine Gefahr sein, hiess es. Weil es überdies im Gegensatz zu anderen Schlafmitteln auch nicht abhängig machte, wurde es fatalerweise schnell auch bei Schwangeren zum Verkaufsschlager. Nach vier Jahren nahm das deutsche Pharmaunternehmen Grünenthal Contergan Ende 1961 aus dem Handel.
Der Prozess: «geringe Schuld der Verantwortlichen». Nach jahrelangen Ermittlungen und über sechs Jahre, nachdem das Medikament vom Markt genommen worden war, begann am 27. Mai 1968 der Prozess gegen mehrere Pharmamanager. In einem der bis dahin aufwändigsten Verfahren der deutschen Rechtsgeschichte traten zahlreiche Eltern betroffener Kinder als Nebenkläger auf. Nach 283 Verhandlungstagen wurde der Prozess jedoch eingestellt – wegen geringer Schuld der Angeklagten.
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Bild 1 von 5. Nach über sechsjährigen Ermittlungen und einem der bis dahin aufwändigsten Strafverfahren der deutschen Geschichte begann am 27. Mai 1968 der Prozess gegen mehrere Pharma-Manager der Contergan-Herstellerin Grünenthal. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 5. Der Prozess, in dem auch Dutzende Eltern betroffener Kinder als Nebenkläger auftraten, fand in einem Bergarbeitercasino in der Nähe von Aachen statt. In der Region befindet sich der Sitz von Contragan-Herstellerin Grünenthal. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 5. Neun Pharmamanager wurden des nicht beabsichtigten Totschlags, der ungewollten Körperverletzung und Vergehens gegen das Arzneimittelgesetz angeklagt. Unter ihnen Grünthal-«Präparate-Betreuer» Günther Sievers (2.v.l.). Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 5. Als Zeuge wurde auch der Stuttgarter Contergan-Erfinder Herbert Keller (Bild) vernommen. Ebenso wie als Experte der Humangenetiker Widukind Lenz, der in Münster nach den Ursachen für die Missbildungen geforscht und öffentlich Alarm geschlagen hatte. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 5. Auf Contergan als Ursache für Fehlbildungen war zunächst kein Verdacht gefallen. Kinderarzt Lenz durchsuchte mit grösstem Engagement die Hausapotheken Betroffener und forderte Grünenthal schliesslich auf, den Contergan-Verkauf zu stoppen. Darauf warnte er trotz wissenschaftlich nicht gesicherter Datenlage öffentlich vor den Folgen des Medikaments. Bildquelle: Keystone.
Der Vergleich: Rente und eine späte Entschuldigung. Noch vor Abschluss des Strafprozesses wurde im April 1970 ein Vergleich geschlossen. Contergan-Herstellerin Grünenthal zahlte gut 100 Millionen D-Mark an eine Stiftung. 2009 überwies das Unternehmen noch einmal 50 Millionen Euro als Sonderzahlung. Die Conterganstiftung für behinderte Menschen zahlt seither den Opfern eine monatliche Rente – je nach Grad der körperlichen Schädigung. Laut Kritikern jedoch viel zu wenig. Eine explizite Entschuldigung für das Contergang-Desaster gab es von Grünenthal erst im Jahr 2012.