«Es gibt kein ‹Weshalb›!», sagt ein Mann im weissen Schutzanzug. «Sie können nicht einfach machen, was Sie wollen. Wir sind hier nicht in Amerika, sondern in China.» Das Video ging in den sozialen Medien viral, es zeigt Bewohner Schanghais, die mit den Gestalten in Weiss diskutieren. Diese stehen im Hauseingang und wollen die Bewohnerinnen und Bewohner in eine zentrale Quarantäne-Einrichtung bringen. Dies, weil ein Nachbar positiv auf Covid-19 getestet wurde.
Es sind Aufnahmen wie diese, die die Menschen in Schanghai in Rage versetzen. Wie zum Beispiel Frau Li, die in Wahrheit anders heisst. Ihre Stadt erkenne sie nicht wieder: «Alle sind verrückt geworden, von heute auf morgen!» Li, Ende 50, wohnt mit Ehemann, Sohn und ihren Eltern zusammen. In ihrem Stadtteil begann der Lockdown schon im März.
Die Familie kommt kaum an Lebensmittel. Und es fehlen lebenswichtige Medikamente für Lis Eltern, beide über 90 und bettlägerig. Sie beschwert sich, streitet sich mit den zuständigen Behörden der Siedlung. «Wenn niemand etwas sagt, dann behandeln sie uns doch wie Tiere, ja wie Vieh, das man einfach einsperren kann. Aber wir sind doch Menschen!»
Vorsicht mit Nachrichten in Chats
Frau Li erhält eine Warnung eines Bekannten, sie solle sich in der Chatgruppe der Wohnsiedlung zurückhalten. Die Behörden kündigten zuvor an, auch gegen kritische Kommentare und die Verbreitung von – wie sie es nennen – Gerüchten in privaten Chatgruppen vorzugehen.
Sie behandeln uns doch wie Tiere, ja wie Vieh, das man einfach einsperren kann. Aber wir sind doch Menschen!
«Es wird alles unterdrückt, das ist jetzt ihre Methode.» Demokratie oder einen Rechtsstaat gebe es ja sowieso nicht, ärgert sich Li. Die chinesische Zensur macht nicht einmal vor der Weltgesundheitsorganisation halt. WHO-Chef Tedros Ghebreyesus bezeichnete die chinesische Zero-Covid-Politik als nicht nachhaltig.
Die chinesischen Zensoren löschten daraufhin den Eintrag auf dem offiziellen Weibo-Konto der WHO. Die Null-Covid-Politik ist eng verknüpft mit der chinesischen Führung, die diese bereits zur Systemfrage hochstilisiert hat. Eine Abkehr davon liegt politisch offenbar nicht drin.
Gefahr einer Systemüberlastung
Der chinesische Politologe Wu Qiang in Peking gehört zu den wenigen verbliebenen Akademikern in China, die sich öffentlich kritisch äussern. «Zu Beginn machten sie sich Sorgen, dass die Pandemie das Gesundheitssystem überfordere. Das wäre auch eine politische Herausforderung, weil die Leute am Machtanspruch der kommunistischen Partei zweifeln könnten.»
Dass Chinas Führung ihre Politik einfach so weiterführe, hänge direkt mit dem 20. Parteikongress im Herbst zusammen, sagt Wu. Xi Jinping strebt dort eine dritte Amtszeit an. Bis dann setze er auf die Null-Covid-Karte.
«Die Null-Covid-Politik, die strengen Massnahmen der letzten zwei Jahre, die Kontrolle über die Bürgerinnen und Bürger, über ihre Daten, über ihre Bewegungsfreiheit – im Namen der Pandemie-Bekämpfung. Damit konnte Xi seine Macht stärken. Für ihn gibt es deshalb keinen Grund, dies vor dem Parteikongress einfach so aufzugeben», so Wu.
Im Gegenteil: Es sei ein Kontrollsystem, von dem Xi langfristig profitieren könne. Und so ist die Null-Covid-Politik auch längst eine Frage der politischen Loyalität geworden. Und die steht klar über der Wissenschaft.