Zwei Monate nach Jahresbeginn sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bereits mehr als 100'000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gelangt – eine Zahl, die im vergangenen Jahr erst im Juli erreicht wurde. Die allermeisten von ihnen kamen über Griechenland.
Die meisten Flüchtlinge hoffen nach wie vor, von dort aus weiter in Richtung Norden zu gelangen. Allerdings wird dieser Weg immer beschwerlicher, seit die Balkanroute via Mazedonien so gut wie abgeriegelt ist. Staaten wie Deutschland etwa registrieren einen massiven Rückgang der Flüchtlingszahlen, seit die mazedonischen Behörden pro Tag nur noch wenige Menschen passieren lassen.
Gleichzeitig warnen Experten und auch die deutsche Regierung davor, dass die Schliessung der Balkanroute keine nachhaltige Lösung sei. Die IOM etwa rechnet damit, dass sich die Fluchtrouten nun erneut verlagern würden.
SRF News skizziert hier Brennpunkte der Flüchtlingskrise und mögliche Alternativrouten der Flüchtlinge und stellt die Frage, was dies für die Schweiz bedeuten könnte.
1. Ankunft in Europa: Die Lage auf Lesbos
Die Ägäisinsel verzeichnet seit dem vergangenen Jahr einen massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen. Nach Zahlen des UNO-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR kamen zwischen Januar 2015 und Anfang März 2016 insgesamt 544'953 Menschen auf Lesbos an – nahezu die Hälfte aller Flüchtlinge, die in dieser Zeit über das Mittelmeer nach Europa kamen. Die allermeisten Flüchtlinge haben die Insel und auch Griechenland bis vor kurzem innerhalb weniger Tage in Richtung Norden verlassen. Seit die Balkanroute via Mazedonien aber praktisch dicht ist, wird dieser Weg immer beschwerlicher. «Derzeit staut sich alles in Griechenland», sagt der Schweizer Michael Räber, der seit dem vergangenen Sommer ankommende Flüchtlinge auf Lesbos mit seiner privaten Hilfsorganisation schwizerchrüz.ch , Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnenunterstützt. Die Zahl der Flüchtlinge auf Lesbos geht deshalb aber nicht zurück. Räber berichtet von durchschnittlich 1200 Menschen, die derzeit täglich von der gegenüberliegenden türkischen Küste die griechische Insel erreichen. «Wir hören von den Menschen, dass der durchschnittliche Preis für die Überfahrt in den vergangenen Tagen von rund 1000 auf 1200 Euro gestiegen ist», sagt Räber. «Das lässt darauf schliessen, dass die Nachfrage nach den Überfahrten wieder gestiegen ist.» Räber berichtet von einer «Jetzt oder nie»-Stimmung unter den Flüchtlingen. «Wir erleben wohl einen Endspurt auf die sich schliessenden Grenzen.» Dass die Menschen nun über Alternativrouten in Richtung Norden nachdenken würden, kann Räber nicht bestätigen.
2. Die schwierige Balkanroute über Mazedonien
Für Tausende Flüchtlinge ist die Flucht nach Europa derzeit an der griechisch-mazedonischen Grenze vorerst vorbei. Seit die mazedonische Regierung jeden Tag nur noch wenige Menschen passieren lässt, stauen sich die Flüchtlinge vor allem im Grenzort Idomeni. Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen sollen es derzeit etwa 14'000 sein, die unter prekären Bedingungen in einem Lager ausharren, das für 2000 Menschen ausgelegt ist. Nach Angaben des UNHCR sind etwas mehr als die Hälfte der Menschen in Idomeni Frauen und Kinder. Neuankömmlinge campieren bei widrigem Winterwetter auf den Feldern vor dem Lager. Die Grenze zum Nachbarland Mazedonien ist weithin sichtbar: Ein hoher Zaun mit Stacheldraht markiert ihren Verlauf. Immerhin: Die griechische hat inzwischen angekündigt, ein Gesundheitszentrum einzurichten. Bisher erhalten die Menschen nur von privaten Organisationen medizinische Hilfe.
3. Alternativroute: Von Griechenland über Albanien nach Italien
Weil die Balkanroute via Mazedonien praktisch dicht ist, rechnen Experten damit, dass der Weg über Griechenland und Albanien nach Italien an Bedeutung gewinnen könnte. «Die Verschiebung der Route ist die logische Folge der derzeitigen EU-Politik», sagt etwa Stefan Frey von der Schweizerische Flüchtlingshilfe. «Die Schlepper stehen ja bereits an der Adria bereit.» Die italienische Zeitung «La Repubblica» berichtete unter Berufung auf italienische Ermittler, in sozialen Netzwerken würden derzeit mehrere Alternativrouten nach Italien inzwischen für tausende Euro angeboten. Eine führt demnach mit Bussen von Griechenland an die albanische Küste östlich der Hauptstadt Tirana. Von dort würden Schlepper die Flüchtlinge in kleinen, schnellen Booten an die südöstliche Küste Italiens, den Stiefelabsatz, bringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass diese Route eingeschlagen würde: Anfang der neunziger Jahre gelangten zehntausende albanische Flüchtlinge auf diesem Weg nach Westeuropa. Kriminelle Banden nutzten ihn zudem zum Schmuggel von Zigaretten und Drogen. Die hoffnungslos unterlegende italienische Küstenwache hatte oft das Nachsehen. Ob tausenden oder gar zehntausenden Menschen auf dieser Route die Flucht nach Italien gelingen könnten, ist allerdings fraglich. Albaniens Regierungschef Edi Rama hat bereits angekündigt, sein Land werde sich dem Transit von Flüchtlingen mit allen Mitteln widersetzen.
4. Alternativroute: Von Westgriechenland direkt nach Italien
Eine neue Flüchtlingsroute könnte über Westgriechenland mit Schiffen nach Italien laufen. Allerdings gibt es bei weitem nicht solche Infrastrukturen wie an der türkischen Küste. Auch sind die Entfernungen, die die Flüchtlingsschiffe zurücklegen müssten, deutlich grösser. So trennen die griechische Hafenstadt Igoumenitsa rund 170 Kilometer vom südostitalienischen Otranto, eine Überfahrt dürfte mehrere Stunden dauern.
5. Alternativroute: Über Bulgarien in Richtung Norden
Das Nicht-Schengen-Land Bulgarien liegt bisher abseits der Balkanroute. Mit der Quasi-Schliessung der griechisch-mazedonischen Grenze könnte das ärmste EU-Land aber nun verstärkt in den Fokus der Flüchtlinge geraten. Bulgarien hat im vergangenen rund 27'000 Flüchtlinge registriert. Vor allem Syrer sind geblieben, viele von ihnen haben in Bulgarien noch Verwandte – frühere Studenten aus Vor-Wende-Zeiten. Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Regierung in Sofia befürchtet nun einen grösseren Migrantenzustrom und verlängert derzeit einen Mitte 2014 errichteten, 30 Kilometer langen Zaun entlang der türkischen Grenze. Von den zusätzlich geplanten 130 Kilometern Zaun sollen soweit etwa 60 Kilometer fertig sein. Die insgesamt 275 Kilometer lange bulgarisch-türkische Grenze verläuft teils durch schwer zugängliches Terrain. Auch die bisher kaum genutzte Schwarzmeerroute könnte an Bedeutung gewinnen.
6. Grössere Bedeutung für den Weg übers zentrale Mittelmeer
Im vergangenen Jahr wagten nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex rund 156'000 Menschen die gefährliche Überfahrt von Libyen aus über das zentrale Mittelmeer in Richtung Italien. Im Vergleich zu 2014 sanken die Zahlen leicht, weil mehr Menschen die Route über das östliche Mittelmeer nach Griechenland einschlugen. Sollte dieser Weg nun aber immer beschwerlicher werden, dürfte die Fluchtroute über das zentrale Mittelmeer wieder an Bedeutung gewinnen. Die deutsche «Welt am Sonntag» berichtete vor kurzem unter Berufung auf Nachrichtendienste verschiedenener Länder, dass in libyschen Küstenorten bereits zwischen 150'000 und 200'000 Flüchtlinge auf besseres Wetter warten, um die Fahrt übers Mittelmeer zu wagen. Bislang kommen die Flüchtlinge dort vor allem aus Eritrea, Nigeria und Somalia. Die Zahl der Migranten aus der Kriegsregion in Syrien steige jedoch.
7. Alternative Fluchtrouten: Was bedeuten sie für die Schweiz?
In der Schweiz wurden 2015 knapp 35'000 Asylgesuche gestellt – das waren gut 5000 mehr als der Bund prognostiziert hatte. Die grossen Flüchtlingsströme aber zogen am Land vorbei. Das hat vor allem mit der bisher von den meisten Menschen eingeschlagenen Balkanroute zu tun, die nach Norden über Österreich nach Deutschland führt. Was aber, wenn diese Route nun zur Sackgasse wird und die Menschen sich neue Wege nach Norden suchen – etwa über Albanien und Italien? Muss dann auch die Schweiz mit steigenden Flüchtlingszahlen rechnen? Das Bundesamt für Migration gibt zu dieser Frage keine Auskunft. Eine verlässliche Prognose sei nicht möglich – weder zu Routen noch zur Zahl der Asylgesuche, heisst es auf Anfrage von SRF News. Andere Experten werden konkreter. Die Verschiebung der Fluchtroute via Albanien und Italien ist die logische Folge der momentanen EU-Politik», sagt Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Sollte sich die Albanien-Route etablieren, werden diese Menschen die Flüchtlinge nicht registrieren, sondern durchreichen wie in der Vergangenheit auch schon.» Man müsse annehmen, dass in diesem Fall vermehrt Flüchtlinge in die Schweiz kommen. Die meisten, so Frey, wollten aber wohl weiter nach Deutschland und Frankreich.
(srf/agenturen/krua/galc;)