Alle Afrikaner wollten nach Europa: Diese Vorstellung hört man in Europa oft. In Tat und Wahrheit flüchten die meisten Menschen nicht nach Europa, sondern in ein anderes afrikanisches Land. Beispielsweise nach Uganda.
Das kleine Land im Herzen des Kontinents hat die meisten Flüchtlinge in Afrika aufgenommen. Aus dem benachbarten Südsudan sind seit Ausbruch eines blutigen Bürgerkriegs im Jahr 2013 rund anderthalb Millionen Menschen nach Uganda geflüchtet.
Wie Jeane Dawa. Sie erst 26 Jahre alt. Doch sie hat schon so viel Schreckliches erlebt, dass die meisten daran zerbrechen würden.
Jeane Dawa lebte in einem Dorf im Südsudan, als der Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Parteien ausgebrach. Ein bewaffneter Trupp stürmte eines Nachts in ihre Hütte und erschoss vor ihren Augen ihren Mann. Sie selbst wurde danach von mehreren Männern vergewaltigt.
Jeane Dawa packte ihre drei Kinder, das jüngste erst drei Monate alt, und kam nach einem einwöchigen Fussmarsch in Uganda an. Hier, im Flüchtlingslager, wurde sie vor einigen Monaten nochmals vergewaltigt. Doch die junge Frau gibt nicht auf – ihrer Kinder und ihrer Würde wegen.
Die Flüchtlinge aus dem Südsudan wurden in Uganda in einer Gegend angesiedelt, wo bereits Kleinbauern leben. Sie wohnen nicht in einem riesigen umzäunten Lager, dicht aufeinander gepfercht, sondern in kleinen Hütten oder Zelten. Diese verteilen sich über ein Gebiet von mehr als 40 Kilometern und verschwinden beinahe im Grün der Landschaft. Das Bidi-Bidi-Lager ist mit rund 250’000 Flüchtlingen das grösste.
Die meisten Flüchtlinge kamen vor zwei Jahren nach Uganda. Abgesehen von alleinerziehenden Frauen, alten und behinderten Menschen, haben sie ihre Hütten selber gebaut. Aus Lehm formten sie Backsteine, die sie an der Sonne trocknen liessen. Mithilfe eines Holzgerüsts fügten sie die Steine zu einer Mauer zusammen. Das Dach besteht – wie häufig in Afrika – aus getrockneten Grasbündeln, die über einer Plastikplane arrangiert werden.
Uganda, selbst kein reiches Land, hat die Flüchtlinge mit offenen Armen aufgenommen. Nicht nur aus Eigennutz. Die Bereitschaft, den Flüchtlingen ein Stück Boden zu Verfügung zu stellen, wird mit dem Ausbau der Infrastruktur und der Schaffung von Arbeitsstellen in den Flüchtlingslagern entgolten.
Die monatliche Nahrungsmittelration, die alle registrierten Flüchtlinge erhalten, deckt die Grundbedürfnisse nur knapp. Doch Hunger herrscht in Bidi Bidi nicht. Die meisten Flüchtlinge haben in den vergangenen zwei Jahren etwas Mais oder Maniok anbauen können. Einige besitzen sogar ein paar Hühner.
Ebenfalls aussergewöhnlich in Uganda ist die Tatsache, dass die Flüchtlinge hier von Anfang an arbeiten dürfen. Geregelte Arbeit gibt es allerdings nur für die wenigsten. Die meisten Flüchtlinge finden sich in den lokalen Märkten, wo sie ihre Produkte wie Erdnüsse oder Erdnussbutter verkaufen. Oder sie schlagen sich mit einem Mini-Laden durch.
Mehrere hunderttausend Menschen brauchen eine entsprechende medizinische Versorgung. Die beste Klinik in ganz Bidi Bidi wird von Médecins Sans Frontières und Médecins du Monde betrieben. 40 Patienten können hier stationär behandelt werden.
Es gibt zwar eine Gebärstation, aber weder eine Röntgenmaschine noch Ultraschall. Mit dem bescheidenen Equipment konnten dennoch schon hunderte Leben gerettet werden – vor allem von Patienten mit Malaria.
Die NGO Médecins Sans Frontières hat erkannt, dass Flüchtlinge nicht nur Unterstützung für physische Probleme brauchen, sondern auch für psychische Traumata. In speziellen Beratungsstellen betreuen sie vergewaltigte oder misshandelte Frauen und Flüchtlinge, die mit ihrer Lebenssituation nicht mehr zurechtkommen. Täglich warten im Zelt dutzende Menschen darauf, ihr Herz auszuschütten.
In den letzten Monaten haben sich in Bidi Bidi einige Menschen das Leben genommen – ganz einfach, weil sie für sich keine Perspektive mehr sahen.
John Moro hat die Beratungsstelle von Médecins Sans Frontières bereits mehrmals aufgesucht. Der 67-jährige Mann aus dem Südsudan verlor seine fünf Söhne. Sie wurden von einem herumziehenden Trupp kaltblütig erschossen.
Nach seiner Ankunft in Uganda begann er, seinen Schmerz im Alkohol zu ertränken, bis er schliesslich nach mehreren Beratungsgesprächen wieder einen Sinn in seinem Leben sah. Heute trinkt er nicht mehr. Zusammen mit seiner Frau versucht er, so gut es geht, für seine verwaisten Enkelkinder zu sorgen.
Die Ausbildung von tausenden Flüchtlingskindern ist in Bidi Bidi eine der grössten Herausforderungen. In der improvisierten Schule mit dem hoffnungsvollen Namen «Knowledgeland», was soviel heisst wie das Land des Wissens, werden über 1300 Primarschüler unterrichtet.
Diese Herkulesaufgabe bewältigen 21 Lehrer mit grossem Elan. Das Geld für die Löhne und das Schulungsmaterial sind von einer finnischen Organisation gespendet worden. Das Wissen wird den Kindern mit Frontalunterricht eingepaukt. Wer zuhinterst sitzt, ohne Blick auf die Wandtafel, der muss auf sein Pult stehen.
Die südsudanesische Flüchtlingskatastrophe gilt als drittgrösste der Welt. Doch so, wie der Südsudan sich vom einst gefeierten jüngsten Staat in einen Pariah gewandelt hat, mit dessen internen Machtkämpfen niemand im Westen etwas zu tun haben will, so werden wohl auch die zwei Millionen Flüchtlinge irgendwann in Vergessenheit geraten.
Aussicht auf baldige Rückkehr in den Südsudan besteht nicht: Die kürzlich unterzeichnete Friedensvereinbarung wurde bereits wieder verletzt. Ausserhalb der südsudanesischen Hauptstadt Juba herrschen nach wie vor Willkür und Gewalt.