Seit elf Monaten schaltet das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) Video-Erlebnisberichte von Flüchtlingen auf ihre Webseite auf. Die Aufklärungskampagne soll vor allem jungen Fluchtwilligen in Lagern bewusst machen, welchen Gefahren sie sich durch Schlepperbanden aussetzen. UNHCR-Mitarbeiterin Melissa Sunjic hat die Kampagne initiiert und zieht eine erste vorsichtige Bilanz.
SRF News: Hält ein solches Video einen 20-jährigen Somalier, der von einem Leben in Europa träumt, vor der Flucht ab?
Melissa Sunjic: Ein einzelnes Video oder auch zwei schrecken sicherlich nicht ab. Aber wenn es viele Videos gibt und gelingt, dass die Menschen über den Sinn einer Reise nach Europa diskutieren, schreckt das ab. Das ist der Zweck einer erfolgreichen Kampagne.
Was bringen solche Videos für jene, die dann trotzdem aufbrechen?
Wir sagen den Menschen ja nicht grundsätzlich, sie dürften nicht flüchten. Wer Fluchtgründe hat, hat ein Recht auf Asyl und soll diesen Schutz auch bekommen. Es darf aber nicht sein, dass die Propaganda der Schlepper die einzige und oft wichtigste Informationsquelle von jungen und unerfahrenen Menschen ist. Sie wissen nicht, wie gefährlich die Reise ist. Dazu verschulden sie sich und ihre Familien auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus und finden dann in Europa nicht, was sie sich vorgestellt haben.
Schlepper dürfen nicht die einzige Informationsquelle für junge und unerfahrene Menschen sein.
Was haben die Menschen für Vorstellungen über die Reise nach Europa?
Alle wissen, dass die Reise irgendwie gefährlich ist. Sie wissen aber nicht, was ihnen alles zustossen kann. Es gibt eine ganze Reihe krimineller Organisationen, die vor allem in Nordafrika tätig sind. Sie versprechen den Menschen, sie gratis mitzunehmen und schildern alles als problemlos. Unterwegs werden die Flüchtlinge dann bei offener Telefonleitung gefoltert und müssen ihre Eltern oder Familie um Geld bitten. Die Geiselnehmer erklären dann etwa, sie schnitten ihrem Sohn gerade ein Fingerglied ab und drohen bei Nichtzahlung Schlimmeres an. Wer gar nicht zahlen kann, wird oft zur Sklavenarbeit weitergegeben, und Frauen landen in der Zwangsprostititution.
Viele erzählen, dass die meisten auf dem Weg zur libyschen Küste sterben, nicht auf dem Mittelmeer.
Wenn sich jemand unterwegs verletzt oder krank wird, wirft man ihn einfach aus dem Lastwagen und lässt ihn in der Wüste sterben. Viele Leute, die die Reise gemacht haben, erzählen mir, dass die meisten Menschen nicht im Mittelmeer sterben, sondern auf dem Weg zur libyschen Küste.
Das UNHCR-Projekt gibt es seit elf Monaten. Zeigt die Kampagne Wirkung?
Wir sehen gewisse Fortschritte. Das zeigt etwa ein Camp mit Somaliern in Äthiopien. Dort gibt es jetzt Whatsapp-Gruppen von Jugendlichen. Sie machen eine Art Wettbewerb, wer die meisten Menschen davon abhalten kann, sich Schleppern anzuvertrauen. Die Zahl der Jungen, die oft unwissend oder gegen den Willen ihrer Eltern das Camp verlassen, sind hier zurückgegangen.
Auch wenden sich Junge vermehrt an die Lagerverwaltung und fordern Sporteinrichtungen und bessere Ausbildung im Camp. Zum ersten Mal überlegen sie sich also nicht nur, wie sie möglichst rasch wegkommen, sondern denken auch über die Lebensgestaltung vor Ort nach. Das ist genau der Paradigmenwechsel, der notwendig war.
Das Gespräch führte Teresa Delgado.