Europa hält viel auf seine zivilisatorischen Werte. Die Flüchtlingskrise hat viele davon erschüttert: Von Athen bis Österreich sehen sich Migranten mit Zäunen, Gewalt und harten Gesetzen konfrontiert. Einige versuchen mit Schleppern weiter zu kommen, viele sitzen in Athen oder anderswo auf der Balkanroute fest.
Im Umgang mit der Flüchtlingskrise werfen Menschenrechtsorganisationen Europa zumindest moralisches Versagen vor. Doch tritt es auch die Rechte der Asylsuchenden mit Füssen – und damit das Völkerrecht?
Ein Gespräch mit Oliver Diggelmann, Professor Völkerrecht an der Universität Zürich und Kenner des komplizierten internationalen Flüchtlingsrechts, zeigt: Eine einfache Antwort gibt es nicht.
In dieser Welt der Globalisierung sind wir in die Globalisierung der Gleichgültigkeit geraten.
Mit diesen Worten geisselte Papst Franziskus im Sommer 2013 Europas vermeintliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Sterben der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer.
Doch auch Bilder wie jene von Frauen mit Kindern, die am ungarisch-serbischen Grenzzaun abgewiesen werden, erschüttern die Moralvorstellungen vieler Menschen.
Moral und Recht
Letzteres Beispiel zeigt, dass Moral und Recht nicht gleichbedeutend sind: «Die rechtliche Situation ist nicht so eindeutig, wie man sich das wünschen würde», sagt Diggelmann.
Denn grundsätzlich hätten Staaten das Recht, ihre Grenze zu sichern – auch wenn die Situation im Einzelfall dramatisch sei. Der Jurist schildert exemplarisch, wie kompliziert das Flüchtlingsrecht sein kann.
Die Flüchtlingskonvention – der kleinste gemeinsame Nenner: «Die Erwartungen an das Völkerrecht sind, dass es eine minimale Gerechtigkeit schafft. Im Bereich des Flüchtlingsrechts konnten sich die Staaten nur auf ein absolutes Minimum einigen. Die Flüchtlingskonvention vermittelt kein Recht, einen Asylantrag zu stellen. Sie gibt einer Person, die in einem Land ist und einen Asylantrag stellt, aber folgendes Recht: Man darf sie nicht in ein Land zurückschaffen, indem ihr eine schwere Schädigung an Leib und Leben droht. Vorgaben für ein allfälliges Asylverfahren gibt es nicht.»
Wahrung der öffentlichen Sicherheit: «Wenn eine sehr grosse Anzahl von Fluchtmigranten in ein Land kommt und diese, wie es in Ungarn geschehen ist, untertauchen, besteht ein öffentliches Interesse, die Situation zu steuern. Unter gewissen, sehr restriktiven Voraussetzungen ist es völkerrechtlich erlaubt, Rayons wie in Ungarn zu schaffen, aus denen diese Menschen auch nicht heraus dürfen. Die Möglichkeiten, die derzeitige Migration zu steuern, sind sehr begrenzt. Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Menschen untertauchen.»
Negativ-Wettbewerb der Staaten: «Das grundsätzliche Dilemma besteht darin, dass ein fataler Anreiz herrscht: Manche Staaten sind versucht, sich durch kalkuliertes Unterschreiten der Minimalstandards einen Ruf zu erarbeiten, ein unattraktives Zielland zu sein. Auch die Medien tragen dazu bei, dass etwa Ungarn sein Ziel erreicht. Aber auch westeuropäische Länder – auch die Schweiz – ‹profitieren› davon, dass die Menschen dort hart angefasst werden. Und letztlich für die ganze Dublin-Region kein Asyl bekommen können.»
Eine völkerrechtlich realistische Lösung: «Die Frage ist, ob ein noch grösserer Problemdruck an dieser Situation nicht irgendwann etwas ändern kann. Heute empfangen die südeuropäischen Staaten, vor allem diejenigen am Mittelmeer, die ganzen grossen Mengen an Fluchtmigranten. Es gibt keine Verpflichtung der anderen Staaten, solche Migranten nach einem fairen Schlüssel zu übernehmen. Eine vernünftige Lösung ist nur möglich, wenn die europäischen Staaten bei dieser Frage kooperieren und einen Schlüssel erarbeiten, wie diese Migranten verteilt werden.»