Die Situation der in Libyen gestrandeten Flüchtlinge und Migranten beschäftigt Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen. Sie beklagen unhaltbare Zustände in den Internierungslagern, gewaltsame Übergriffe auf schutzlose Menschen und eine gleichgültige Haltung Europas gegenüber dem Elend.
Doch Europa steckt im Dilemma: Es unterstützt den libyschen Staat finanziell, damit dieser die Migranten auf dem Weg nach Europa abfängt und interniert. Dass die Zusammenarbeit mit teils zweifelhaften Akteuren im Bürgerkriegsland problematisch ist, ist jedoch auch der Politik nicht verborgen geblieben.
In der «NZZ am Sonntag» plädierte Justizministerin Sommaruga dafür, zu prüfen, besonders verletzliche Flüchtlinge aus den libyschen Lagern in die Schweiz zu holen:
Wir müssen die Schwächsten rasch aus den libyschen Haftzentren rausholen.
Wie die Lage der Vertriebenen in Libyen wirklich ist, wissen nur wenige. SRF-Italien-Korrespondent Philipp Zahn weilt derzeit im Land und konnte sich selber einen Eindruck verschaffen. Er schildert, wie der Flüchtlingspakt zwischen Libyen und Europa funktioniert: «Die Menschen, die von der libyschen Küstenwache aufgegriffen werden, werden in offizielle Internierungslager gebracht und dort mithilfe der Internationalen Organisation für Migration (IOM) registriert.»
Befreiung aus den Lagern der Milizen
Dann werde versucht, eine Rückführung der Menschen in ihre Heimatländer zu organisieren. Die Rückführaktionen würden momentan «im grossen Stil» laufen: In den letzten Wochen seien fast 15'000 Migranten aus Internierungslagern der Schlepper befreit worden, berichtet Zahn. Nun seien diese Menschen in den offiziellen Internierungs- und Abschiebelagern in der Hauptstadt Tripolis.
Der SRF-Korrespondent hatte in den letzten Tagen die Möglichkeit, eines der offiziellen Lager zu besuchen: «Ich war in einem der Hauptlager hier in Tripolis, das in relativ gutem Zustand ist. Dennoch: Die Menschen werden in grossen Massen gehalten. Sie müssen sich anstellen, um eine Kelle Reis zu bekommen. Letztlich ist es wie in einem Gefängnis.»
Zahn konnte mit einigen der Internierten sprechen. Am meisten laste die Ungewissheit auf ihnen:
Sie sind sehr frustriert. Sie wissen nicht, wie lange sie noch in den Lagern ausharren müssen und ob sie eine Chance haben, herauszukommen.
Der leichteste Weg, Gewissheit zu bekommen, ist schnell ausgemacht: Die freiwillige Rückkehr ins Heimatland.
Gestrandet im Bürgerkriegsland
Zahn konnte mit einigen Migranten aus Burkina Faso am Flughafen von Tripolis sprechen, die auf ihren Ausschaffungsflug warteten: «Sie berichteten, wie sie in der Küstenstadt von ‹Grenzwächtern› – eigentlichen Milizionären – völlig ausgeraubt und dann in ein Lager gesteckt wurden.»
Geblieben sei ihnen nichts als die Kleider, die sie am Körper trugen. «Die meisten dieser Menschen beschweren sich bitter über die humanitäre Situation in Libyen. Sie sehen keine Möglichkeit, im Land zu bleiben: Es gibt keine Arbeit, stattdessen leben sie in ständiger Angst ausgeraubt oder von irgendwelchen Milizionären entführt zu werden.»
Bewaffnete Milizen unterhalten eigene Internierungslager, wo die Migranten unter teils katastrophalen Bedingungen dahinvegetieren: Menschenrechtsorganisationen prangern sexuelle Gewalt, Folter und Versklavung an.
Macht sich Europa angesichts solch unwürdiger Zustände in seiner direkten Nachbarschaft schuldig? Zahn relativiert: Europa habe wenig Möglichkeiten, vor Ort zu intervenieren, da die meisten Länder keine konsularischen oder botschaftliche Vertretung mehr hätten. «Ein zusätzliches Problem ist, dass auch das Flüchtlingshilfswerk der UNO, das UNHCR, nur sehr sporadisch in Libyen arbeiten kann.»
Die internationalen Beobachter und auch die Hilfswerke seien also vom Goodwill einzelner Milizenchefs abhängig: «Sie alle sind der Situation ausgeliefert, solange der Status der internationalen Hilfe in Libyen nicht offiziell auf stärkeren Beinen steht.»
Kaum Möglichkeiten für organisierte Hilfe
Am Montag trifft sich in Bern die «Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer». Eines ihrer zentralen Anliegen ist, den Schutz der Geflüchteten entlang dieser Migrationsroute zu verbessern. Die Einführung humanitärer Visa, wie sie Justizministerin Sommaruga zur Diskussion stellt, dürfte vorderhand nicht realisiert werden:
Europa hat sich faktisch von Libyen abgewendet: Es gibt fast keine internationalen Strukturen, die in der Lage wären, so eine Scharnierfunktion zu übernehmen. Es muss noch viel Aufbauarbeit geleistet werden.
Solange der Status der IOM und des UNHCR im Land derart schwach sei, hält Zahn konkrete Vereinbarungen mit lokalen Milizen für illusorisch. Am Treffen in Bern steht die Evakuierung von Flüchtlingen denn auch nicht im Vordergrund.