Der Wald von Bialowieza war das Jagdgebiet der polnischen Könige. Er steht seit Jahrhunderten unter Schutz. Nur einige Abschnitte des Waldes werden seit dem ersten Weltkrieg genutzt. Biologen sprechen vom letzten ursprünglichen Wald Europas. Immer wieder stossen sie auf Überraschungen bei der Erforschung des Zusammenlebens von Pflanzen und Tieren.
Vor zwei Jahren hat die polnische Regierung die erlaubte Holzschlagmenge verdreifacht. «Die Förster müssen die Borkenkäferplage in den Griff bekommen», so die Begründung. Seither entstehen vielerorts im Wald grosse Lichtungen. Die Förster sagen, sie fällen nur da, wo es erlaubt ist. Die Umweltschützer sagen, die Schutzauflagen würden missachtet. Und die EU-Kommission hat beim Europäischen Gerichtshof Klage eingereicht wegen der Abholzung.
Der Borkenkäfer befällt nur Fichten. Die liefern gut verkäufliches Holz, darum wurden sie früher gern angepflanzt. Doch für Fichten ist es in Bialowieza wegen des Klimawandels wohl zu warm geworden. Für Förster sind die toten Bäume «stehende Leichen». Sie möchten deren Holz ernten und befallene Gebiete neu aufforsten. Naturschützer wollen den natürlichen Zerfalls- und Wachstumsprozessen ihren Lauf lassen.
«Mit jedem Baum, den wir fällen, retten wir 30 gesunde Bäume», sagt Oberförster Grzegorz Bielecki. Er macht kein Hehl daraus, dass er sich über die Verfügung des Europäischen Gerichtshofes hinwegsetzt, den Holzschlag bis zu einem Urteil zu unterlassen: «Das hiesse für uns ja, aufzuhören, den Wald zu pflegen.» Einen Wald schütze man, indem man ihn nachhaltig nutze, sagt er. Und in Schutzgebieten würden ja nur Bäume gefällt, die eine Gefahr darstellten: «Sie könnten auf Waldbesucher fallen.»
Ein Witz, findet Joanna Pawluswkiewicz: «Der einzige Mensch, der hier je von einem Baum erschlagen wurde, war ein betrunkener Holzfäller, der während eines Sturms in den Wald ging.» Für sie und ihre Mitstreiter ist es schwierig geworden, die Holzfäller aufzuhalten. Denn Waldwächter – auch aus anderen Gebieten Polens – wurden in Bialowieza zusammengezogen, und sperren viele Wege im Wald ab.
In Bialowieza kommen sogenannte Harvester, Holzvollernter, zum Einsatz. Die schweren Maschinen fällen, entasten und zersägen einen Baum in weniger als einer Minute. Sie sind für die industriemässige Forstwirtschaft ausgelegt, nicht für den Einsatz in Naturschutzgebieten. Ihnen fallen nicht nur tote Fichten zum Opfer, sondern auch gesunde Bäume, die im Weg stehen.
Besonders geschützt wären Bäume, die über hundert Jahre alt sind. Sie gehen zurück auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – vor den ersten menschlichen Eingriffen in das einzigartige Ökosystem. Für Biologen verliert der Wald an Ursprünglichkeit mit jedem solchen Baum, der gefällt wird.
Immer noch gelingt es Umweltschützern, sich an Waldmaschinen zu ketten. Über tausend Aktivistinnen und Aktivisten schlossen sich dieses Jahr schon für ein paar Tage oder Wochen dem Widerstand an. Sie kommen aus Warschau, Schweden, Italien, Deutschland oder Portugal. Unter ihnen sind viele Biologen, die auch den Wald inventarisieren und Buch führen über die Rodungen.
Die Waldschützer werden von der Polizei streng überwacht. Doch sie bieten keine Angriffsfläche. In ihrem Camp sind Drogen und sogar Alkohl verboten. Anfangs gingen viele Einheimische auf Distanz zu den auswärtigen Besuchern. Doch mit Informationsanlässen und vielen Gesprächen ziehen die Umweltschützer immer mehr Leute aus der lokalen Bevölkerung auf ihre Seite.
«Ausser dem Wald haben wir hier nichts Wertvolles», sagt Slawomir Dron. Er vermietet Ferienwohnungen und Velos. Seine Geschäfte sind dieses Jahr eingebrochen. «Die Touristen kommen nicht, wenn sie hören, dass die Waldwege gesperrt sind.» Dabei seien im Dorf Bialowieza zehnmal mehr Leute im Tourismus tätig als in der Forstwirtschaft. Seit diesem Frühling organisiert er den lokalen Widerstand gegen die Abholzung. Mit Erfolg: «Die Stimmung kippt», sagt er.
Der Wald von Bialowieza macht nur 0,7 Prozent des Waldes in Polen aus. Es wäre kaum ein Verlust für die Regierung, hier auf den Holzschlag zu verzichten. Doch Beobachter vermuten, Umweltminister Jan Szyszko sei in Bialowieza auf Rache aus.
Vor zehn Jahren scheiterte sein Projekt einer Umfahrungsstrasse durch ein Naturschutzgebiet im Nordosten Polens am Widerstand der Naturschützer. Szysko sagt, es gehe ihm um den Borkenkäfer und den Erhalt des Waldes. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes über die Abholzung steht noch aus. Ungewiss ist auch, wie die polnische Regierung auf einen Schuldspruch reagieren wird.