Die gute Nachricht zuerst. «Europa wird in die Herdenimmunität im Juli, spätestens im August reinkommen», prophezeit Ugur Sahin. Mit seiner Frau Özlem Türeci bildet er das Mediziner-Forscherpaar der Stunde. Sie gründeten in Mainz die Firma Biontech und produzieren nun mit Pfizer den gleichnamigen Corona-Impfstoff.
Sahin spricht von einer neuen Normalität, in der wir leben werden: «Die neue Normalität wird eben sein, dass man sich schützen und frei bewegen kann und dass die meisten Menschen einen sehr guten Impfschutz haben werden.»
Neue Normalität – aber nicht ganz für alle
In der neuen Normalität werde es aber auch Menschen geben, die ungeimpft seien, sich nicht impfen lassen wollten oder trotz Impfung noch keine perfekte Immunantwort erzeugt hätten: «Auf diese Menschen müssen wir Rücksicht nehmen», betont Sahin. In der neuen Normalität werde Corona Bestandteil des Alltags. Er vermutet, dass die Impfung alle zwölf bis 18 Monate aufgefrischt werden muss.
Sahin ist nicht nur ein brillanter Wissenschaftler und Manager. Das zeigt auch die Biontech-Produktion, die im Unterschied zu Astra-Zencea fast geräuschlos läuft. Er ist aber auch ein hervorragender Diplomat.
Klartext: Gegen die Freigabe von Lizenzen
Sahin spricht klar, auch Klartext, aber immer sehr freundlich und nimmt jede Frage ernst. Doch die Freigabe von Lizenzen lehnt er deutlich ab und betont: «Wir wollen ja nicht einen qualitativ minderwertigen Impfstoff in Afrika haben.»
Sahin überlegt sich aber die Abgabe von Speziallizenzen an spezialisierte Hersteller. Ansonsten vertraue er auf ein Netz mit 30 Partnerfirmen, die unter Anleitung von Biontech die Produktion unterstützen: «Ich finde es grossartig, dass so viele Menschen und gestandene Pharmafirmen wie Novartis, Sanofi oder Baxter mithelfen und sich nicht zu schade sind, für uns abzufüllen.»
Kinder türkischer Einwanderer
Der beispiellose Aufstieg von Ugur Sahin und seiner Frau Özlem Türeci war beiden nicht in die Wiege gelegt. Sahin kam als Vierjähriger nach Köln, wo sein Vater bei Ford am Fliessband stand. Und Deutschland ist nicht gerade berühmt dafür, dass die Gesellschaft besonders durchlässig ist.
Philipp Ther, Leiter des Research Center for the History of Transformation in Wien, schreibt in der «Zeit», Sahin sei 1984 das erste türkische Gastarbeiterkind gewesen, das am Erich-Kästner-Gymnasium Köln Abitur abgelegt habe.
«Ich war als Forscher privilegiert»
Sahin, der dieser Tag den ausländischen Medien Red und Antwort stand, hält dazu fest: «Es ist ganz einfach so, dass ich mehrfach Glück hatte. Als Schüler setzten sich Nachbarn dafür ein, dass ich aufs Gymnasium konnte. Das war mir damals gar nicht klar, dass es das braucht, um an die Universität zu können.»
Sahin war exzellent, wurde deshalb gefördert und spielt seine Herkunft als mögliches Hindernis herunter. «Ich würde nicht sagen, dass ich gegen ein System kämpfen musste und habe das auch nie so empfunden. Wenn man so auf die Sache konzentriert ist, kriegt man vielleicht auch gar nicht so mit, wenn man diskriminiert wird. Ich war als Forscher privilegiert. Staat und Steuerzahler zahlten dafür.»