Die leeren Bierflaschen häufen sich auf dem Bartisch. «Nach zwei Jahren Krieg treffe ich endlich alte Freunde wieder», freut sich Aradom*. Der 35-Jährige hat für die Tigray-Rebellen gekämpft, nun ist er zurück in Tigrays Hauptstadt Mekelle. «Es ist nicht einfach, sich im zivilen Leben wieder zurückzufinden», gesteht er. Viele seiner Kameraden seien zu Rauchern oder Alkoholikern geworden.
Andere sind im Krieg gestorben. «Eigentlich sässen sie nun hier», sagt Barbesitzer Solomon*. «Manchmal fragen mich Familienmitglieder, ob ich von ihnen gehört habe.» Dass sie tot sind, getraut er sich nicht zu sagen. Solomon bestellt eine weitere Runde Bier. «Fast alle hier sind traumatisiert. Der Alkohol hilft uns zu vergessen.»
Die Wunden des Krieges verheilen nur langsam. Auch bei der Zivilbevölkerung. In der Primarschule der Kleinstadt Adigrat leben Vertriebene wie Tsige Mawcha. Die Mutter von fünf Kindern erzählt, wie ihr Dorf im November 2022 von eritreischen Soldaten angegriffen wurde. «Sie kamen, um uns zu töten. Einige haben sie erwischt, doch wir sind entkommen.»
Eine andere Frau aus der Region hatte weniger Glück. Sie wollte ihren Haushalt retten und blieb im Haus. Fünf Soldaten fesselten sie und vergewaltigten sie vor den Augen ihres vierjährigen Sohnes. Sexuelle Gewalt hatte im Tigray-Krieg System – und wurde von allen Seiten angewandt. Oft werden Frauen danach von ihren Ehemännern verlassen.
Viele können noch nicht nach Hause
In der Schule zeigt Mutter Mawcha ihren Schlafplatz. Es ist eine Wandtafel in einer Ecke des Schulzimmers. Gegen die kalten Nächte im gebirgigen Tigray schützen eine Plastikplane und ein Feuer auf dem Steinboden des Schulzimmers. Möchte die Mutter nicht wieder nach Hause, nun, da die Waffen schweigen? Sie schüttelt den Kopf. «Solange es noch feindliche Milizen in meinem Dorf hat, gehe ich nicht zurück.»
Trotz Waffenstillstandsabkommen ist Tigray noch nicht frei von gegnerischen Soldaten. Darum können nicht alle Menschen nach Hause. Zehntausende harren in Vertriebenenlagern aus.
Im Krieg war Tigray unerreichbar. Die Strassen waren geschlossen, Handynetz und Internetverbindungen ausgeschaltet. Opferzahlen sind darum Schätzungen. Doch der Krieg traf die Bevölkerung hart, weil die Versorgung mit Essen und Medikamenten nicht mehr gewährleistet war. Humanitäre Hilfe erreichte die Region kaum.
Drei Jahre ohne Schule
Die Folgen des Krieges werden die Region noch lange beschäftigen. Etwa, weil seit drei Jahren alle Schulen und Universitäten in Tigray geschlossen sind. Primarlehrer Woldeselassie Assefa erklärt: «Die fehlende Bildung wirft Tigray zurück. Nicht nur das Wissen der Kinder ist betroffen, sondern auch ihre Erziehung und Psyche.» Die Angestellten der öffentlichen Dienste in Tigray erhalten noch immer keinen Lohn.
Die Schule, an welcher Assefa unterrichtet, ist eine Ausnahme. Hier, im Dorf Agerbia, versammeln sich rund hundert Kinder zum Morgenappell. Das geht nur, weil eine Hilfsorganisation die Lehrer mit umgerechnet je 50 Franken im Monat unterstützt. So können zumindest die ersten drei Primarklassen unterrichtet werden.
Doch der Schulbesuch ist unkonstant, erzählt der Lehrer: «Manche Schüler leiden Hunger und kommen darum manchmal gar nicht zur Schule.»
Der Hunger bremst das Wachstum
Nicht weit entfernt von der Schule röstet eine alte Frau Weizenkörner auf einem Blech. Das sei das einzige, was sie ihren hungrigen Grosskindern derzeit geben könne, erklärt Tsehainesh Hagos. Während des Krieges habe Essen manchmal komplett gefehlt: «Wir hatten nichts mehr. Das war schlimm. Es gab nicht mal mehr Salz oder Chili zum Würzen.»
Wenn Kinder zu wenig Essen erhalten, dann bremst der Körper das Wachstum. Es ist noch Jahrzehnte später messbar. Kein Essen, keine Bildung, das wirft Tigrays Entwicklung zurück. Die alte Frau ist darum überzeugt, Tigray muss sich mit Äthiopien zusammenraufen: «Ein unabhängiges Tigray, das führt nur zu Konflikten. Darum bin ich für ein vereintes Äthiopien.»
Ein schlechter Deal für Tigray
Der Ex-Kämpfer Aradom ist anderer Meinung: «Ich hatte gehofft, dass wir die Unabhängigkeit Tigrays erreichen würden.» Das Waffenstillstandsabkommen sei ein schlechter Deal für die Region, glauben viele Junge. Die Tigray-Rebellen werden entwaffnet, der Westen Tigrays jedoch ist noch immer in der Hand von Amhara-Milizen, die Unabhängigkeit der Region ist kein Thema mehr.
Dafür machen viele die TPLF-Führung verantwortlich. Der alten Elite würde es nur um ihren Machterhalt gehen. Kindeya Gebrehiwot vom Zentralkommittee der TPLF verteidigt das Abkommen: «Frieden wird durch Verhandlungen erreicht. Und in Verhandlungen kannst du nicht immer gewinnen.» Zumindest schwiegen nun die Waffen, erklärt der Politiker.
Auch das Thema Unabhängigkeit sei nicht vom Tisch, so Gebrehiwot: «Das Abkommen stützt sich auf Äthiopiens Verfassung. Diese enthält das Recht auf Selbstbestimmung. Wir geben die Idee also nicht auf.»
Viele Junge wollen weg
Doch Äthiopien profitiert vom Friedensschluss stärker als Tigray. In der Provinz kehrt der Alltag nur langsam ein. Äthiopien hingegen hat seine Beziehungen zur EU oder den USA bereits grösstenteils normalisiert. Es fliesst wieder Geld nach Äthiopien.
Dabei gibt es weitere Brennpunkte. Auch andere Regionen wollen unabhängiger werden und sind mit der Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed im Clinch. Ethnische Auseinandersetzungen könnten im Vielvölkerstaat in den nächsten Jahren noch zunehmen.
In Tigray hingegen wollen viele Junge weg. Sie sehen keine Zukunft in der ruinierten Region. Die Wunden des Krieges, sichtbare und unsichtbare, verheilen nur langsam. Und die Narben werden Tigray noch über Jahre beschäftigen.
*Namen geändert
Bildquelle Titelbild: Keystone/Eduardo Soteras