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Friedensschluss in Äthiopien Der Tigray-Krieg hinterlässt tiefe Wunden, die kaum verheilen

In den zwei Jahren Krieg zwischen Äthiopien und den Tigray-Rebellen wurde viel zerstört. Die Menschen litten extrem. Wenig davon drang in dieser Zeit nach aussen. Nun sind Reisen nach Tigray wieder möglich. SRF-Afrikakorrespondent Samuel Burri begegnet erleichterten, aber traumatisierten Menschen.

Die leeren Bierflaschen häufen sich auf dem Bartisch. «Nach zwei Jahren Krieg treffe ich endlich alte Freunde wieder», freut sich Aradom*. Der 35-Jährige hat für die Tigray-Rebellen gekämpft, nun ist er zurück in Tigrays Hauptstadt Mekelle. «Es ist nicht einfach, sich im zivilen Leben wieder zurückzufinden», gesteht er. Viele seiner Kameraden seien zu Rauchern oder Alkoholikern geworden.

Andere sind im Krieg gestorben. «Eigentlich sässen sie nun hier», sagt Barbesitzer Solomon*. «Manchmal fragen mich Familienmitglieder, ob ich von ihnen gehört habe.» Dass sie tot sind, getraut er sich nicht zu sagen. Solomon bestellt eine weitere Runde Bier. «Fast alle hier sind traumatisiert. Der Alkohol hilft uns zu vergessen.»

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Äthiopien: Die Wunden des Tigray-Krieges heilen nur langsam
aus International vom 25.03.2023. Bild: SRF Samuel Burri
abspielen. Laufzeit 27 Minuten 51 Sekunden.

Die Wunden des Krieges verheilen nur langsam. Auch bei der Zivilbevölkerung. In der Primarschule der Kleinstadt Adigrat leben Vertriebene wie Tsige Mawcha. Die Mutter von fünf Kindern erzählt, wie ihr Dorf im November 2022 von eritreischen Soldaten angegriffen wurde. «Sie kamen, um uns zu töten. Einige haben sie erwischt, doch wir sind entkommen.»

Eine andere Frau aus der Region hatte weniger Glück. Sie wollte ihren Haushalt retten und blieb im Haus. Fünf Soldaten fesselten sie und vergewaltigten sie vor den Augen ihres vierjährigen Sohnes. Sexuelle Gewalt hatte im Tigray-Krieg System – und wurde von allen Seiten angewandt. Oft werden Frauen danach von ihren Ehemännern verlassen.

 Viele können noch nicht nach Hause

In der Schule zeigt Mutter Mawcha ihren Schlafplatz. Es ist eine Wandtafel in einer Ecke des Schulzimmers. Gegen die kalten Nächte im gebirgigen Tigray schützen eine Plastikplane und ein Feuer auf dem Steinboden des Schulzimmers. Möchte die Mutter nicht wieder nach Hause, nun, da die Waffen schweigen? Sie schüttelt den Kopf. «Solange es noch feindliche Milizen in meinem Dorf hat, gehe ich nicht zurück.»

Trotz Waffenstillstandsabkommen ist Tigray noch nicht frei von gegnerischen Soldaten. Darum können nicht alle Menschen nach Hause. Zehntausende harren in Vertriebenenlagern aus.

Wie es zum Krieg in Tigray kam

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Der Tigray-Krieg war im Kern ein Konflikt zwischen Äthiopiens Zentralregierung und der Tigray-Befreiungsfront TPLF. Die äthiopische Armee erhielt Unterstützung von Milizen aus der Amhara-Region und von der Armee Eritreas.

Er gilt als einer der schlimmsten Konflikte der letzten Jahre. Die Region wurde faktisch von der Aussenwelt abgeschnitten. Geschätzte 600‘000 Menschen starben an den Kriegsfolgen, an Gewalt, Hunger und mangelnder medizinischer Versorgung.

  • 2018: In Äthiopien übernimmt Ministerpräsident Abiy Ahmed das Ruder. Abiy entmachtet die alte Führungselite Äthiopiens, die aus vielen TPLF-Leuten besteht. Die TPLF-Elite zieht sich nach Tigray zurück.
  • 2019: Abiy erhält den Friedensnobelpreis für seinen Friedensschluss mit Eritrea. Die Rhetorik zwischen Abiy und der TPLF hingegegen verschärft sich.
  • November 2020: TPLF-Rebellen greifen eine Kaserne von Äthiopiens Armee in Tigrays Hauptstadt Mekelle an und erbeuteten Waffen. Äthiopiens Armee schlägt zurück und erobert Tigray fast vollständig.
  • Juni 2021: Die Tigray-Rebellen, welche sich ins Gebirge zurückgezogen hatten, schlagen zurück. Einer der Wendepunkte ist die Schlacht bei Yechila. Die Tigray befreien einen Grossteil der Region.
  • November 2021: Die Offensive der Tigray geht weiter – es gibt Gerüchte, dass die TPLF gar Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba erobern könnte. Doch dann schlägt die äthiopische Armee mit Drohnenangriffen zurück.
  • März 2022: Es kommt zu einem ersten Waffenstillstand.
  • August 2022: Äthiopiens Armee startet mit Unterstützung Eritreas und Amharas eine neue Offensive. Stärker denn je gerät die Zivilbevölkerung ins Fadenkreuz. Die TPLF ist wieder in der Defensive.
  • November 2022: Nach Verhandlungen in Südafrika kommt es zum Waffenstillstandsabkommen von Pretoria. Die TPLF-Rebellen werden entwaffnet, die Blockade von Tigray soll aufgehoben werden.

Im Krieg war Tigray unerreichbar. Die Strassen waren geschlossen, Handynetz und Internetverbindungen ausgeschaltet. Opferzahlen sind darum Schätzungen. Doch der Krieg traf die Bevölkerung hart, weil die Versorgung mit Essen und Medikamenten nicht mehr gewährleistet war. Humanitäre Hilfe erreichte die Region kaum.

Drei Jahre ohne Schule

Die Folgen des Krieges werden die Region noch lange beschäftigen. Etwa, weil seit drei Jahren alle Schulen und Universitäten in Tigray geschlossen sind. Primarlehrer Woldeselassie Assefa erklärt: «Die fehlende Bildung wirft Tigray zurück. Nicht nur das Wissen der Kinder ist betroffen, sondern auch ihre Erziehung und Psyche.» Die Angestellten der öffentlichen Dienste in Tigray erhalten noch immer keinen Lohn.

Die Schule, an welcher Assefa unterrichtet, ist eine Ausnahme. Hier, im Dorf Agerbia, versammeln sich rund hundert Kinder zum Morgenappell. Das geht nur, weil eine Hilfsorganisation die Lehrer mit umgerechnet je 50 Franken im Monat unterstützt. So können zumindest die ersten drei Primarklassen unterrichtet werden.

Doch der Schulbesuch ist unkonstant, erzählt der Lehrer: «Manche Schüler leiden Hunger und kommen darum manchmal gar nicht zur Schule.»

Der Hunger bremst das Wachstum

Nicht weit entfernt von der Schule röstet eine alte Frau Weizenkörner auf einem Blech. Das sei das einzige, was sie ihren hungrigen Grosskindern derzeit geben könne, erklärt Tsehainesh Hagos. Während des Krieges habe Essen manchmal komplett gefehlt: «Wir hatten nichts mehr. Das war schlimm. Es gab nicht mal mehr Salz oder Chili zum Würzen.»

Wenn Kinder zu wenig Essen erhalten, dann bremst der Körper das Wachstum. Es ist noch Jahrzehnte später messbar. Kein Essen, keine Bildung, das wirft Tigrays Entwicklung zurück. Die alte Frau ist darum überzeugt, Tigray muss sich mit Äthiopien zusammenraufen: «Ein unabhängiges Tigray, das führt nur zu Konflikten. Darum bin ich für ein vereintes Äthiopien.»

Ein schlechter Deal für Tigray

Der Ex-Kämpfer Aradom ist anderer Meinung: «Ich hatte gehofft, dass wir die Unabhängigkeit Tigrays erreichen würden.» Das Waffenstillstandsabkommen sei ein schlechter Deal für die Region, glauben viele Junge. Die Tigray-Rebellen werden entwaffnet, der Westen Tigrays jedoch ist noch immer in der Hand von Amhara-Milizen, die Unabhängigkeit der Region ist kein Thema mehr.

Karte zeigt umstrittene Tigray-Region im Grenzgebiet von Eritrea und Äthiopien
Legende: srf

Dafür machen viele die TPLF-Führung verantwortlich. Der alten Elite würde es nur um ihren Machterhalt gehen. Kindeya Gebrehiwot vom Zentralkommittee der TPLF verteidigt das Abkommen: «Frieden wird durch Verhandlungen erreicht. Und in Verhandlungen kannst du nicht immer gewinnen.» Zumindest schwiegen nun die Waffen, erklärt der Politiker.

Auch das Thema Unabhängigkeit sei nicht vom Tisch, so Gebrehiwot: «Das Abkommen stützt sich auf Äthiopiens Verfassung. Diese enthält das Recht auf Selbstbestimmung. Wir geben die Idee also nicht auf.»

Viele Junge wollen weg

Doch Äthiopien profitiert vom Friedensschluss stärker als Tigray. In der Provinz kehrt der Alltag nur langsam ein. Äthiopien hingegen hat seine Beziehungen zur EU oder den USA bereits grösstenteils normalisiert. Es fliesst wieder Geld nach Äthiopien.

Dabei gibt es weitere Brennpunkte. Auch andere Regionen wollen unabhängiger werden und sind mit der Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed im Clinch. Ethnische Auseinandersetzungen könnten im Vielvölkerstaat in den nächsten Jahren noch zunehmen.

In Tigray hingegen wollen viele Junge weg. Sie sehen keine Zukunft in der ruinierten Region. Die Wunden des Krieges, sichtbare und unsichtbare, verheilen nur langsam. Und die Narben werden Tigray noch über Jahre beschäftigen.

*Namen geändert

Bildquelle Titelbild: Keystone/Eduardo Soteras

International, 25.03.2023, 09:00 Uhr

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