1.3 Milliarden Menschen leben in Indien. Bis 2027 kommen laut UNO-Berechnungen 100 Millionen dazu, womit Indien China als bevölkerungsreichtes Land ablösen dürfte. Mehrere indische Bundesstaaten überlegen sich jetzt Geburtenkontrollen. Fragen an Expertin Britta Petersen zur Gesetzesvorlage in Uttar Pradesh.
SRF News: Was beinhaltet dieses Gesetz?
Britta Petersen: Paare, die mehr als zwei Kinder wollen, sollen künftig nicht mehr an Lokalwahlen teilnehmen und sich auch nicht mehr für Regierungsjobs qualifizieren können. Der Zugang zu vergünstigten Lebensmitteln wird für sie eingeschränkt. Als Anreiz sollen Regierungsangestellte mit höchstens zwei Kindern mehr Geld erhalten.
Der Vorschlag stammt von der Regierung im nordindischen Teilstaat Uttar Pradesh, wo 2022 Wahlen anstehen. Also nicht von der indischen Regierung in Neu-Delhi. Indien hat die UNO-Deklaration von 1994 unterzeichnet, die sicherstellt, dass die reproduktiven Rechte der Menschen nicht eingeschränkt werden dürfen.
Eine ehemalige hohe indische Gesundheitsbeamtin kritisiert, die Massnahme sei extrem rückschrittlich und schade in erster Linie den Ärmsten. Was meint sie damit?
Die Wissenschaft ist sich einig, dass Zwangsmassnahmen nicht hilfreich sind: So haben besser Gebildete automatisch weniger Kinder. Das ist der grösste Anreiz. In Indien liegt die Geburtenrate seit längerem bei 2.2 Kindern pro Frau. Zugleich sind Ärmere besonders stark betroffen, denn sie haben weniger Zugang zu Bildung und nicht das Geld für Verhütungsmittel. Die Massnahmen wirken sich zudem sehr negativ auf Frauen aus, denn der Druck zur Abtreibung von weiblichen Föten steigt, wie Erfahrungen in China zeigen.
Die muslimische Gemeinde spricht von einer Verschwörung der regierenden Hindu-Nationalisten? Was ist daran?
Der Vorstoss des Ministerpräsidenten von Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, just vor den Wahlen ist tatsächlich verdächtig. Er zählt zu den fanatischsten Hindu-Fundamentalisten und machte schon immer Wahlkampf auch gegen Muslime. Gerüchte, dass Muslime dereinst die Mehrheit übernehmen könnten, sind aber masslos überzogen. Deren Anteil könnte bis 2050 von aktuell 14 Prozent auf etwa 17 Prozent steigen.
1967 während der Regierungszeit von Indira Gandhi wurden über sechs Millionen meist sehr arme Menschen zwangssterilisiert. Was war der Auslöser der staatlichen Kampagne?
Damals kam der Druck aus den westlichen Ländern. Indien war noch sehr viel ärmer und hatte ein weit höheres Bevölkerungswachstum. Die Weltbank gab Gandhi Kredite für die Sterilisierungen. Zu den unerfreulichen Auswüchsen kam es, als man den lokalen Regierungen Quoten vorgab. Da wurden Menschen teils unter falschen Angaben sterilisiert und wussten oft gar nicht, wie ihnen geschah. Das ist noch im Gedächtnis. Das Thema ist sehr negativ konnotiert und wird selten öffentlich diskutiert.
Indien dürfte China bevölkerungsmässig an der Spitze ablösen. Ist das zu verhindern?
Die Bevölkerung Indiens wächst mit 0.99 Prozent im Jahr 2020 nicht rasant. Das entspricht etwa der Schweiz. Inderinnen haben 2.2 Kinder im Schnitt, in der Schweiz sind es 1.5. Die Schweiz wächst also mehr durch Zuwanderung als Indien. Ungeachtet dessen hat die Reproduktionsrate bei der riesigen Bevölkerung massive Auswirkungen. Auch mit Blick auf den Klimawandel und den Verbrauch an Energie, den Indien noch sehr stark mit Kohle deckt. Da sind Überlegungen für eine kleinere Bevölkerung nachvollziehbar.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.