Der landesweite Streik in Frankreich geht in die zweite Runde. Betroffen ist hauptsächlich der öffentliche Verkehr. Aber auch Lehrerinnen und Lehrer gehen wieder auf die Strasse. Der Protest richtet sich gegen die geplante Rentenreform, mit der die französische Regierung Privilegien für bestimmte Berufsgruppen abschaffen will. Die Reform sei entscheidend für das Image von Präsident Macron, sagt Frankreich-Expertin Claire Demesmay – und genau deswegen dürfte er zu Zugeständnissen bereit sein.
SRF News: Rund eine Million Menschen gingen am Donnerstag auf die Strasse. Was sagt das über die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus?
Claire Demesmay: Angesichts des Streiks kann man von allgemeiner Unzufriedenheit in weiten Teilen der Gesellschaft sprechen. Allerdings: Wenn man sich Umfragen anschaut, ist das Bild widersprüchlich. Zwei Drittel der Befragten halten die Protestbewegung zwar für gerechtfertigt. Aber genauso viele sind für die Angleichung der verschiedenen Rentensysteme im öffentlichen und privaten Sektor. Insofern ist es schwierig, diese Unzufriedenheit zu definieren.
Angekündigt war ein Generalstreik. War es das auch?
Das würde ich nicht sagen, auch wenn es zweifellos ein massiver Streik war. «Generalstreik» bedeutet, dass Arbeitnehmende aus allen Kategorien streiken. In diesem Fall war es aber anders. Es nahmen vor allem Arbeitnehmer aus dem öffentlichen Dienst teil – der Bahngesellschaft SNCF, Lehrerinnen und Lehrer, Spitalangestellte, Polizisten.
Macron hat mit der Reform viel zu verlieren, aber auch viel zu gewinnen.
Das ist auch nicht überraschend. Denn vor allem Arbeitnehmende aus dem öffentlichen Sektor sind von der Reform betroffen. Die Regierung hofft natürlich, dass es so bleibt und es kein Generalstreik wird.
Über Macrons Rentenreform ist noch kaum etwas bekannt. Was bedeutet sie für den Präsidenten?
Er hat mit der Reform viel zu verlieren, aber auch viel zu gewinnen. Es geht um sein Image als Reformer – in Frankreich selbst, aber auch in Europa. Wenn die Reform umgesetzt wird, wäre Macrons Glaubwürdigkeit als Reformer gestärkt. Und damit auch sein Anspruch auf eine Führungsrolle in der EU. Ein Scheitern würde aber genau das Gegenteil bewirken. Es steht also viel auf dem Spiel.
Der Protest bei den Gelbwesten hat gezeigt, dass der Präsident durchaus bereit ist zu Zugeständnissen. Wird er auch auf den aktuellen Druck der Strasse reagieren?
Es ist wichtig zu sehen, welchen symbolischen Wert die Reform für das Image des Präsidenten hat. Für Macron und sein Team wird am Ende zählen, dass die Reform überhaupt auf den Weg gebracht wird. Selbst, wenn sie nicht so ambitioniert sein sollte wie ursprünglich geplant. Und es gibt tatsächlich Spielraum für Verhandlungen und somit auch für Zugeständnisse auf Regierungsseite.
Das Gespräch führte Joël Hafner.