Zum Inhalt springen

Gerüchte auf sozialen Medien «Bei Unsicherheiten greifen wir auf Vorurteile zurück»

Am Samstag raste ein Fahrzeug im deutschen Münster in eine Menschenmenge. Kurz darauf begann auf den sozialen Medien das Spekulieren, Gerüchte wurden verbreitet und Politiker nutzen die Aufmerksamkeit, um ihre Ideologien zu verbreiten – auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nichts über den Täter bekannt war. Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ordnet diese Reaktionen auf Social Media ein.

Bernhard Pörksen

Professor für Medienwissenschaft

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen (D). Zu den zentralen Themen seiner Forschungstätigkeit gehören die Dynamik öffentlicher Empörung, Medienskandale und Fragen der Medienethik sowie Inszenierungsstile in Politik und Medien.

SRF: Warum tendieren die Menschen und viele Medien dazu, solch schreckliche Ereignisse sofort zu deuten und zu werten?

Bernhard Pörksen: Wir sehen hier ein Phänomen, das man «kommentierenden Sofortismus» nennen könnte. Mit Situationen der Ungewissheit können wir Menschen sehr schlecht umgehen. Wir greifen zurück auf das, was wir ohnehin glauben und das mögen eben auch die unterschiedlichsten Vor- und Urteile sein.

Man könnte diese Informationshappen, die man aufnimmt, prüfen. Machen Menschen so ein Selbst-Fakten-Check?

Das passiert und ich glaube, dass das eine grosse Kompetenzherausforderung der Zukunft ist. Aber es gibt natürlich auch die anderen. Diese twittern aus einem Gefühl der Überforderung oder aber mit bösen Absichten. Sie verbreiten Propaganda mit dem, was ihren Vorurteilen entspricht.

Menschen sind gewissheitsbedürftig. In den sozialen Netzwerken werden uns sofort jede Menge Scheingewissheiten angeboten.

Heute Morgen hat eine Frau im Zug erzählt, dass sie auf Twitter gelesen habe, dass der Täter von Münster dunkelhäutig war. Das ist erwiesenermassen falsch. Warum setzt sich die Wahrheit auf sozialen Medien manchmal einfach nicht durch?

Bei verunsichernden Situationen wollen wir Menschen sofort Bescheid wissen. Irgendjemand verbreitet dann irgendein Gerücht und dieses setzt sich dann fest, weil es den eigenen Urteilen entspricht. Der Netz-Philosoph Peter Glaser hat einmal wunderbar gesagt: ‹Informationen sind im digitalen Zeitalter wahnsinnig schnell. Wahrheit braucht aber Zeit.›

Wie sollten wir uns verhalten?

Wir müssen heute anerkennen, dass das Extremereignis die grosse Stunde der Falschmeldungen und der Gerüchte ist. Menschen sind gewissheitsbedürftig. In den sozialen Netzwerken, wo jeder frei publizieren kann, werden uns sofort jede Menge Scheingewissheiten angeboten. Wir müssen lernen, zuerst abzuwarten und uns dann möglichst mit der Version des Geschehens auseinandersetzen, die der Wahrheit und der Richtigkeit am nächsten kommt.

Machen das die klassischen Medien?

Es ist ganz gewiss so, dass diese neue Geschwindigkeit der Informationsverbreitung auch die alten Medien erreicht und sie in eine neue Wettbewerbssituation hineingebracht hat. Klassische Medien müssen sich deshalb umso mehr auf ihre Qualitätsstandards besinnen. Zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit herrscht ein Grundkonflikt. Will man lieber schnell oder lieber genau sein? Möchte man die richtige Version des Geschehens verbreiten oder nicht? Sie merken an diesen rhetorischen Fragen: Natürlich müssen sich Qualitätsmedien in diesem Grundkonflikt für die Genauigkeit entscheiden. Den Geschwindigkeitswettbewerb im digitalen Zeitalter können sie nicht gewinnen.

Im digitalen Zeitalter muss jeder die Ideale des guten Journalismus kennenlernen und sich mit ihnen auseinandersetzen.

Auch die Polizei nutzte am Samstag Twitter, um zu informieren. Sie forderte dazu auf, keine Gerüchte zu verbreiten. Die Polizei schrieb aber auch, ein Anschlag sei nicht ausgeschlossen. Trägt sie so nicht auch zur Desinformation bei?

Das ist eher ein Eingeständnis von Ratlosigkeit in einem Moment, in dem wir noch nicht genau Bescheid wissen. Wir haben mittlerweile ganz unterschiedliche Player in der Öffentlichkeit. Es gibt die klassischen Medien, das medienmächtig gewordene Publikum, die Politiker, die mittwittern und Beileidsbekundung aussprechen oder eben wie auch in diesem Fall zunächst einmal Gerüchte mitverbreiten und es gibt die Polizei. Ihr kommt in dieser Situation eine besonders wichtige Rolle zu. Sie muss besonders ruhig und abwägend agieren und auch sichtbar machen, was weiss man und vor allem auch, was weiss man nicht.

Wenn jeder Informationen verbreiten kann, muss die Öffentlichkeit auch lernen, kritischer zu sein. Kann sie das?

Wir müssen und können das lernen. Mein Vorschlag: Im digitalen Zeitalter muss jeder die Ideale des guten Journalismus kennenlernen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Was ist eine seriöse Quelle? Was ist glaubwürdige, überhaupt verbreitungsreife Information? Das waren früher die Fragen von Journalisten. Heute gehen diese im Sinne einer allgemeinen Informationsethik alle an.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

Meistgelesene Artikel