Rajasthan ist bekannt für schöne Paläste und Wüstensafaris, aber auch berüchtigt für Hitze, Trockenheit und hohe Arbeitslosigkeit. Letzteres gehört in der Kleinstadt Gangapur der Vergangenheit an.
Ein stattliches Einkommen
Kishan Gujur hat, wonach sich an diesem heissen Sommertag viele sehnen, Glace in vielen verschiedenen Sorten: amerikanische Nuss, Vanille, Kulfi – eine indische Spezialität aus Milchpulver, viel Zucker und Kardamom.
Der junge Mann hat seinen Glacewagen am Rande einer Landstrasse in Rajasthan geparkt. Es ist ein kleiner Transporter mit einem auffällig bunt dekorierten Aufsatz aus Stahl hintendrauf. Mittendrin steht Verkäufer Kishan Gujur. Das Geschäft laufe gut, versichert er durch das kleine Verkaufsfenster. Erst recht bei dieser Hitze, mit Temperaturen um 45 Grad Celsius.
Neben ihm steht sein Kollege Pawan Vishnu. Auch er ist Glaceverkäufer. Mit seinem Wagen ist der 19-Jährige normalerweise monatelang im wohlhabenden Süden Indiens unterwegs, in Hyderabad, wo das Geld für Snacks lockerer sitzt als hier. Er verdiene dort mit seiner Glace deutlich mehr Geld als sein Vater als Bauer in Rajasthan.
Glacewagen aus Gangapur
Kishan und Pawan sind Teil der noch jungen Glace-Industrie, die vielen Menschen im trockenen Rajasthan eine neue Perspektive beschert hat. Das Herz dieser Industrie schlägt in einer unscheinbaren Kleinstadt namens Gangapur, nur ein paar Kilometer von den Verkaufsständen entfernt. Die Stadt liegt in der Mittagshitze wie im Koma. Auf der Hauptstrasse ist kaum jemand zu sehen.
Auch Kalu Mohammad Pathan muss erst geweckt werden. Seine Werkstatt grenzt direkt an die Hauptstrasse. Überall auf dem Gelände liegen Stahlbleche und andere Bauteile herum. Im Schatten eines Vordachs steht ein Stahlskelett; Arbeiter werkeln daran herum.
«Das wird ein kleiner Glacewagen mit vier Rädern. Da vorne ist der Platz für den Fahrer», sagt Firmenchef Pathan, der zehn Angestellte beschäftigt. Früher seien diese Glacewagen aus Holz gebaut worden. Aber vor ein paar Jahren sei jemand aus Gangapur auf die Idee gekommen, das Holz durch Stahl zu ersetzen.
Die Technik sei immer weiter verfeinert worden, sagt der 61-Jährige, der früher Hauswart war. Heute würden diese Wagen in ganz Indien verkauft – auch dank eines Youtube-Kanals, der die Wagen vermarktet.
Wagen in bunten Gewändern
Eiswagen aus Gangapur seien die besten, sagt Kalu Mohammad Pathan ganz unbescheiden. Niemand könne den Stahl besser bearbeiten, niemand schaffe es, den Stahl so zum Glänzen zu bringen wie sie. In der viermonatigen Hauptsaison im Winter baut allein sein Betrieb 50 bis 60 Stück, für umgerechnet je 1600 Franken. Es reicht, um die Familie für das ganze Jahr über die Runden zu bringen.
Pathan geht ein paar Schritte weiter über den Hof zu einem fertigen Wagen. Er ist bunt und auffällig – wie der an der Landstrasse. Firmenchef Pathan zeigt auf die vielen Bilder am Wagen: ein Kamel inmitten der Wüste Rajasthans, traditionell gekleidete Frauen, Götter. «Der Wagen sieht aus wie eine geschmückte Braut», findet Pathan – und kichert fröhlich. Nachts, mit den Neonleuchten, erkenne die Kundschaft die Wagen noch aus 500 Metern Entfernung.
Die Glace-Industrie bringt die Wende
Für die Kleinstadt Gangapur sind die Eiswagen ein Segen. «Hier gibt es so gut wie keinen Regen und keine Arbeit», sagt Pathan. Weil es so trocken sei, seien die Ernten schlecht. Die Bauern könnten ihre Familien kaum ernähren. Viele seien deshalb gezwungen, ausserhalb von Rajasthan Arbeit zu suchen.
In fast der Hälfte aller Haushalte in Rajasthan arbeitet mindestens ein Familienmitglied ausserhalb des Landes. Aber für die Zurückgebliebenen gab es lange nichts zu tun.
Mit den Eiswagen kam die Wende. Heute leben 90 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner von der Glace-Industrie. Vor zehn Jahren hat es in Gangapur gemäss Pathan 50 Geschäfte gegeben, die Glacewagen bauten, Dekoration druckten oder Zubehör verkauften. Jetzt seien es 500.
Berühmte Sorten aus Milchpulver
Einer, der von dem Boom profitiert hat, ist Mukesh Jain. Er hat ein grosses Geschäft an der Hauptstrasse. Das Regal hinter seiner Ladentheke ist gefüllt mit kleinen Dosen und Schachteln: «Rosen- und Mandelessenz, Mango- und Senfpulver», sagt Jain. In einer anderen Ecke stapeln sich Gefrierbehälter aus Stahl.
Die Zutaten verkauft Jain an die Besitzer der Wagen, die ihr eigenes Speiseeis herstellen. Denn Gangapur ist nicht nur berühmt für seine Wagen, sondern auch für die speziellen Glaces aus Milchpulver. Er verdiene auch mit dem Zubehör gut, sagt Jain – genug, um Linsen und Brotfladen für seine Familie zu kaufen. Er sieht zufrieden aus.
Zurück zu Glacewagen-Bauer Kalu Mohammad Pathan, der zum Ende des Besuchs zu einer grossen, staubigen Liege hinter der Werkstatt führt. Er stellt sich daneben, grinst und macht ein unwiderstehliches Angebot: «Wenn ihr Schweizer euch hier bei uns Glacewagen bauen lasst, könnt ihr gratis auf dieser Liege übernachten, bis der Wagen fertig ist.»
Dass das Geschäft auch in der Schweiz laufen würde, daran hat Pathan keinen Zweifel: «Wenn ihr unsere Glace erst einmal probiert habt, wollt ihr nie wieder Schokolade essen!»