In Tel Aviv und anderen Städten haben diese Woche mehrere 10'000 Menschen für den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt demonstriert. Denn in Israel sind dieses Jahr bereits 24 Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt gestorben. Jetzt will Premierminister Benjamin Netanjahu handeln – mit einem Gesetz, das Frauen besser schützen soll. Laut SRF-Nahostkorrespondentin Susanne Brunner dürfte das mit den Wahlen nächstes Jahr zusammenhängen.
SRF News: Hat Benjamin Netanjahu so rasch reagiert, weil so viele Leute auf die Strasse gegangen sind, oder handelt es sich um politisches Kalkül?
Susanne Brunner: Ich denke, dass Premierminister Netanjahu wohl etwas erschrocken ist – nicht nur, weil so viele Menschen auf die Strasse gingen, sondern auch weil es vorab eine Art Frauenstreik gab, der von 300 israelischen Organisationen und Institutionen unterstützt wurde. Dieser Streik und die Proteste machten grössere Schlagzeilen als die militärische Operation gegen Tunnels der Hisbollah, die gerade im Gang ist. Das ist selten. Sicherheitsthemen machen in Israel immer die grössten Schlagzeilen. Aber diesmal war das anders. Neben dem Schreck ist natürlich auch politisches Kalkül dabei. Nächstes Jahr ist in Israel ein Wahljahr.
Am Sonntag soll nun über einen Gesetzesvorschlag debattiert werden. Wie stehen die Chancen, dass tatsächlich etwas passiert? Bislang hat die Regierung trotz Versprechen nichts gegen häusliche Gewalt getan...
Die Chancen stehen jetzt sicher etwas besser als vor den Protesten. Hier ein Beispiel, das illustriert, wie wenig das Thema vor den Protesten auf dem Radar der Regierung war: In der Knesset stimmte Netanjahu gegen die Schaffung einer parlamentarischen Kommission, die Gewalt gegen Frauen untersuchen sollte. Seine Begründung war, dass die Opposition den Vorschlag für eine solche Kommission eingebracht habe. Das ist nicht erstaunlich: Seit Jahren kippt das Thema immer wieder von der politischen Agenda. Es hat keine Priorität.
Netanjahu will zeigen, dass er die Anliegen der Frauen ernst nimmt.
Letztes Jahr wurden umgerechnet 67 Millionen Franken für ein Programm gesprochen, das Gewalt gegen Frauen bekämpft. Aber das Geld wurde nie überwiesen. Eine Hauptforderung der Demonstrantinnen ist deshalb: Rückt das Geld raus und macht etwas! Vielleicht ist jetzt zumindest diese Botschaft angekommen.
Wie gross ist das Problem der Gewalt an Frauen in Israel?
Seit Anfang Jahr sind in Israel 24 Frauen nach häuslicher Gewalt gestorben, mehr als in den Jahren davor. Zum Vergleich: In Italien werden zwar im Schnitt drei Frauen pro Woche Opfer ihrer Ehemänner, Partner oder Ex-Partner. Aber im Verhältnis zur Bevölkerungszahl steht Israel schlechter da als Italien – und als arabische Länder wie Jordanien, wo die Regierung bereits Ende der 90er-Jahre unter dem Druck der Frauen eine Polizeieinheit schuf, die sich auf die Bekämpfung häuslicher Gewalt spezialisiert hat. Israel hinkt da eindeutig hinterher.
Vergangene Woche wurden zwei junge Mädchen tot aufgefunden. Waren diese zwei mutmasslichen Morde der Auslöser für die Protestaktionen?
Ja und Nein. Die Wut über eine Regierung, für die Gewalt gegen Frauen einfach keine Priorität hat, hatte sich schon vorher angestaut; wegen der Weigerung der Behörden, auf Klagen von Frauen wegen Gewalt einzugehen oder sie davor zu schützen. Viele dieser Opfer hatten vorher um Schutz gebeten, hatten gewarnt, dass ihre Partner sie bedroht hätten, und nichts ist passiert. Der gewaltsame Tod einer 13- und einer 16-Jährigen entfachte diese Wut nun vollends – vor allem auch wegen der gleichgültigen Reaktion der Regierung.
Netanjahu sagte, Gewalt gegen Frauen sei wie Terror. Wie meint er das?
Der Begriff Terror im Zusammenhang mit Männern, die ihren Frauen Gewalt antun, stammt nicht von Netanjahu selbst. Er wurde von Frauen geprägt, die seit Jahren gegen Gewalt an Frauen ankämpfen und diese Gewalt auch Terror nannten. Ausserdem wird der Begriff Terror für sehr vieles gebraucht, nicht nur in Israel. Ob der Premier Gewalt gegen Frauen wirklich als Terror betrachtet, weiss ich nicht. Aber der Begriff erregt sicher Aufmerksamkeit, und das war wohl auch Netanjahus Ziel: Zu zeigen, dass er die Anliegen der Frauen ernst nimmt.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.