Jede zweite Stunde wird in Brasilien eine Frau Opfer eines Tötungsdelikts. Das zeigt eine Studie der Nichtregierungsorganisation «Public Security Forum», die den sogenannten «Atlas der Kriminalität» herausgibt. Die meisten Bluttaten ereignen sich im Rahmen der häuslichen Gewalt, wo Opfer und Täter in einer persönlichen Beziehung stehen. So werden die meisten Frauen von ihren Ehemännern oder Partnern umgebracht, wobei oft Alkohol oder Drogen eine Rolle spielen.
Frauen werden erschlagen, erschossen oder erstochen. Das habe ganz klar auch mit der Macho-Kultur in Brasilien zu tun, sagt Südamerika-Korrespondent Ulrich Achermann: «Die Männer haben den Eindruck, dass es einfach in Ordnung ist, Frauen zu massregeln, auch mit körperlicher Gewalt.»
Mehr Schwarze und Farbige betroffen
Die Studie kommt zugleich zum Schluss, dass Gewalttaten an schwarzen und farbigen Frauen zunehmen, während sie bei weissen Frauen rückläufig sind. Dies hängt damit zusammen, dass weisse Frauen einen besseren Zugang zu den behördlichen Schutzmechanismen haben, welche in den letzten Jahren entstanden sind.
Weisse Frauen leben aufgrund ihrer sozialen Stellung zudem eher in städtischen Räumen, wo der Staat mit seinen Institutionen präsent ist. Auf dem Land und in den Armensiedlungen, wo mehr dunkelhäutige Brasilianerinnen leben, ist das weniger der Fall.
Fehlende Schutzeinrichtungen in Favelas
Es wird also zu wenig getan, obwohl Brasilien ursprünglich das Pionierland in Südamerika war, das aktiv Massnahmen zum Schutz der Frauen getroffen hat. So gibt es etwa Polizeikommissariate, die ausschliesslich von Beamtinnen geführt werden. Sie sind da, um sich um bedrohte Frauen zu kümmern.
Dazu gibt es auch Frauenhäuser für gefährdete Frauen samt Kindern. Allerdings gibt es zu wenig von all diesen Einrichtungen, und die Schutzmechanismen sind sehr ungleich verteilt. So fehlen sie gerade dort, wo sie am meisten gebraucht würden: in den Favelas und Armenvierteln.
Bolsonaro gibt falsches Vorbild
Was den weitverbreiteten Machismo betrifft, so hat sich laut Achermann in den letzten Jahren einiges getan, als linke Regierungen am Ruder waren. Seit aber der ultrarechte Jair Bolsonaro herrscht, läuft es in die entgegengesetzte Richtung: «Das überlieferte Rollenbild von Männern und Frauen wird wieder zementiert.»
Das überlieferte Rollenbild von Männern und Frauen wird wieder zementiert.
Brasilien leidet wie kein anderes Land unter dem Coronavirus. Die häusliche Gewalt nimmt unter diesen Umständen noch stärker zu, wie Achermann sagt. Zugleich stellt man aber fest, dass es in den Favelas von Rio de Janeiro insgesamt weniger Tote durch Gewalteinwirkung gibt.
Keine Polizeiaktionen in Slums während Corona
Das dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass die Polizei und das Militär während der Epidemie keine Aktionen mehr durchführen dürfen, weil es das höchste Gericht verboten hat: «In normalen Zeiten führen die Sicherheitskräfte dort praktisch soziale Säuberungen durch, bei denen es immer nur Tote und kaum je Verhaftete gibt», so Achermann.
Nach dem Ende der Epidemie dürften die Zahlen der Getöteten in diesen Armenvierteln wieder steigen und wohl auch die Zahl der Gewaltverbrechen. Präsident Bolsonaro betreibt ja ganz bewusst eine Politik der Bewaffnung der Bevölkerung.