Einmal mehr hat Gewalt in Jerusalem zu einem gefährlichen – und leider absehbaren – Flächenbrand geführt. Extremisten auf beiden Seiten wollten die Eskalation, Politiker überliessen ihnen das Feld und gossen selbst noch Öl ins Feuer, anstatt zu deeskalieren.
Chronik einer vermeidbaren Eskalation
Der für Muslime heilige Fastenmonat Ramadan begann am 12. April. Ausgerechnet dann – und ausgerechnet in der Heiligen Stadt Jerusalem – verbarrikadierte die israelische Polizei den Platz vor dem Damaskustor, dem Eingang zum muslimischen Viertel der Altstadt. Der Platz ist während des Ramadan der beliebteste Treffpunkt muslimischer Jugendlicher. Diese empfanden die Abschrankungen als erniedrigende Schikane. Es kam zu tagelangen gewalttätigen Zusammenstössen. Schliesslich musste die Polizei die Abschrankungen vor dem Damaskustor entfernen.
Die Spirale der Gewalt drehte sich jedoch bereits. Palästinenser schlugen ultraorthodoxen Juden ins Gesicht und verbreiteten davon Videos, auch verprügelten sie einen Rabbiner. Jüdische Nationalisten marschierten durch Jerusalem und riefen «Tod den Palästinensern». Die israelischen Sicherheitskräfte stürmten die Al Aqsa Moschee und sorgten für Bilder, die in der muslimischen Welt noch lange für Wut sorgen werden: Sie feuerten Blendgranaten in die drittheiligste Moschee des Islam, ausgerechnet während des Ramadan, und verletzten Hunderte auf dem Tempelberg. Sie liessen nicht einmal Rettungskräfte des Roten Halbmondes passieren.
Wie sich die Gewalt ausbreitete
Die Gewalt breitete sich in andere israelische Städte und ins Westjordanland aus. Auf beiden Seiten gab es erste Tote. Zusätzlich heizte ein erwartetes Gerichtsurteil im jahrzehntelangen Landstreit zwischen palästinensischen Bewohnern und jüdischen Siedlern im Quartier Sheikh Jarrah die Gewalt an und setzte angestaute Wut frei.
Am 6. Mai zog der jüdische Rechtsaussen-Parlamentarier Itamar ben-Gvir unter Polizeischutz ins umstrittene Quartier und löste damit eine neue Welle der Gewalt aus. Am 10. Mai eskalierte die Gewalt noch mehr, als die religiös-nationalistische Siedlerjugend ihren jährlichen Flaggenmarsch zur Feier des Jerusalemtages durchführen wollte. Die Polizei erlaubte ihnen, ausgerechnet durchs vorher für muslimische Jugendliche verbarrikadierte Damaskustor zu ziehen, mitten durchs muslimische Viertel. Der Umzug fand dann doch nicht statt, nachdem die radikalislamische Hamas aus Gaza Raketen auf Jerusalem gefeuert hatte.
Extremisten statt Stimmen der Vernunft
Soweit hätte es nicht kommen müssen. Ein verantwortungsvoller Staatschef hätte versucht, beide Seiten zu beschwichtigen, sie an einen runden Tisch zu holen, die Lage zu deeskalieren. Premier Benjamin Netanjahu, dem es wieder nicht gelang, eine Regierung zu bilden, machte das Gegenteil.
Ungeachtet der Gewalt, die sich immer weiter ausbreitete, betonte er, dass Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels sei, und dass Siedler das Recht hätten, auch im mehrheitlich arabischen Ostjerusalem ihre Häuser zu bauen. Er verteidigte das unsensible, masslose Vorgehen der Sicherheitskräfte auf dem Tempelberg, äusserte kein Wort der Vernunft, kein Wort des Beileids für verletzte Araberinnen und Araber, unter ihnen auch Kleinkinder und Frauen.
Er pfiff die Extremisten in den eigenen Reihen nicht zurück, im Gegenteil, er bestärkte sie. Damit spielte er den Extremisten auf palästinensischer Seite in die Hand. Die radikal-islamische Hamas feuerte Raketen auf die Heilige Stadt Jerusalem und rechtfertigte dieses ungeheure Vorgehen zynisch als sozusagen «heiligen Krieg».
Der Raketenbeschuss aus Gaza und die israelischen Gegenangriffe hören nicht auf, die Menschen im Süden Israels zittern, in den Spitälern von Jerusalem bis Gaza liegen Verletzte, wieder tragen Familien ihre Angehörigen zu Grabe. Ohne Stimmen der Vernunft, ohne Zeichen der Versöhnung und vor allem, solange der Friedensprozess im Koma ist, wird die Gewalt nie aufhören.